Die "Religionsgeschichtliche Schule"


















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Das theol. Stift
Die Germania
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Die Bildung der RGS
Absolutheit des Chr.
Popularisierung
Vier Prinzipien
Rezeption der RGS
Perspektiven der RGS

Die theologischen Väter in Göttingen

(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)

Ein Hauptgrund für Studenten, sich während der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts in Göttingen für das Fach der evangelischen Theologie einzuschreiben, war die Vorlesungstätigkeit von Albrecht Ritschl (1822-1889). Dieser war ein ausgesprochener Feind aller pietistischen Erbaulichkeit. Kirchliche Gruppen und alles, was nach Partei roch, die kirchliche Orthodoxie, bes. die konfessionell-lutherische, waren ihm zuwider. So wurde Ritschl nicht zuletzt bei der recht konservativ ausgerichteten Hannoverschen Landeskirche trotz seines Lehrerfolgs mit Mißtrauen betrachtet und war des öfteren Angriffen ausgesetzt. Z.B. hatte auf der Landessynode des Jahres 1881 Pastor Frank "die R i t s c h l sche Schule, die auf der Landesuniversität herrschte, an[gegriffen], weil sie in wesentlichen Punkten vom Bekenntnis abweiche und an den Grundlagen des Glaubens rüttele" (Friedrich Uhlhorn, Gerhard Uhlhorn. Abt zu Loccum. Ein Lebensbild, Stuttgart 1903, S. 213; Hervorhebung im Original)

Die Spannungen zwischen Ritschl und der Landeskirche führten einerseits dazu, daß "viele angehende Theologen, die in der Regel Söhne von streng lutherischen Pfarrern waren, in diesen Jahren die eindeutiger orthodox lutherisch geprägten Universitäten in Erlangen und Leipzig" [Nittert Janssen, Theologie fürs Volk. Eine Untersuchung über den Einfluß der Religionsgeschichtlichen Schule auf die Popularisierung der theologischen Forschung vor dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Liberalismus in der lutherischen Landeskirche Hannovers, Göttingen 1993, S. 15 (dieser Band ist vergriffen; Restexemplare können noch bezogen werden über das Archiv "Religionsgeschichtliche Schule", Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen)]. besuchten. Andererseits bot dieser "Boykott" die Möglichkeit, in Göttingen in recht liberaler Atmosphäre theologische Studien treiben zu können.

Ritschl begründete seine dogmatischen Überlegungen aus seinem Geschichtsverständnis heraus. Für ihn war das Allgemeine aus dem Besonderen abzuleiten: "[...] das Empirische ist das Eigentliche, die Texte, wie sie dastehen, die Fakten, die Menschen vermitteln die Wirklichkeit, an der sich Ideen zu erweisen haben, sofern sie in ihr liegen" [Trillhaas, S. 119].
Neu war Ritschls Hervorhebung der Gemeinde als Entstehungsort neutestamentlicher Texte, ein Punkt, der später von der "Religionsgeschichtlichen Schule" intensiv untersucht wurde. Doch Ritschls Aufmerksamkeit galt besonders den biblischen Texten in ihrer Endgestalt; ein Interesse an den das Urchristentum betreffenden historisch-kritischen Fragen hatte er in seiner Göttinger Zeit nicht mehr. So fand bei Ritschl eine Harmonisierung der neutestamentlichen Probleme statt; die Gegensätze begannen sich zu glätten und auszugleichen. "Fragen wie die nach der Glaubwürdigkeit der Evangelien, nach dem Verhältnis von Jesus und Paulus bedeuten keinen Unruheherd, und noch bis in den 'Unterricht in der christlichen Religion' (1875) fällt auf, wie unkritisch der doch sonst so kritische Mann bei der Führung des Schriftbeweises verfährt" [Ebd.].

Ritschl war bestrebt, aus der Bibel allgemeingültige Normen für das religiöse Leben der Gegenwart und dessen "Sittlichkeit" aufzustellen. So war seine Exegese immer gleichzeitig dogmatisch gebunden. Durch die nicht geschehene historisch präzise Klärung der neutestamentlichen Begrifflichkeit war der Weg offen "für die Umdeutung und Modernisierung vieler Begriffe in Ritschls Sinne, vor allem zur Umdeutung des 'Reiches Gottes' im innerweltlichen Sinne und zur neutestamentlichen Sanktionierung der Grundbegriffe der bürgerlichen Ethik" [Ebd. Zu Ethik und Theologie Ritschls vgl.: Joachim Ringleben (Hrsg.), Gottes Reich und menschliche Freiheit, Ritschl-Kolloquium (Göttingen 1989), GTA 46, Göttingen 1990].

Beide Stichworte, "Geschichtsverständnis" und "Reich-Gottes-Begriff", wurden letztlich zu Kritikpunkten, an denen sich später die "Religionsgeschichtler" von Ritschl emanzipierten. Schon der Eichhorn-Kreis forderte die unbedingte Freiheit der Forschung von jeder dogmatischen Beschränkung, ohne Konzessionen an die herrschende Kirchenlehre.

Aber noch an einem anderen Punkt begann der Eichhorn-Kreis (und insbesondere später die "kleine Göttinger Fakultät"), sich von Ritschl abzugrenzen. Denn dieser betonte in seinem Harmonisierungsbestreben auch eine direkte Abfolge von Altem und Neuem Testament, ohne jegliche Spannungen und Brüche. Es sollte später das Verdienst von Hermann Gunkel und bes. Wilhelm Bousset sein, diese Sichtweise durch ihre "Entdeckung des Spätjudentums", oder besser: des intertestamentarischen Judentums, zu widerlegen:

    "Wer noch persönlich in ALBRECHT RITSCHLs Schule gelernt hat, weiss sich zu erinnern, mit welcher Energie wir damals auf den Zusammenhang der neutestamentlichen Literatur mit dem alten Testament hingewiesen wurden. In diesem Hinweis war entschieden eine grosse Wahrheit enthalten, aber eine grosse Einseitigkeit. Allmählich lernten wir dann erkennen, wie zwischen der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Zeit und Literatur kein leerer Raum sich befindet, den man einfach überspringen, sondern daß hier eine höchst folgenschwere Entwickelung der Religion stattgefunden habe, ohne deren Kenntnis und Verständnis man die Literatur des Neuen Testaments nicht verstehen könne."
      (Wilhelm Bousset, Die Religionsgeschichte und das Neue Testament, in: ThR 6 [1904], S. 265-277, hier S. 267f; Hervorhebung im Original.)

Für die Voraussetzung von religionsgeschichtlicher Arbeit war Ritschls enge Zusammenrückung von alt- und neutestamentlichen Texten jedoch von Bedeutung. Denn im Bereich des Alten Testaments gab es religionsgeschichtliche Forschung schon seit längerem. Durch Ritschls Verknüpfung von Altem und Neuem Testament war jetzt der Weg frei geworden, die Methoden der alttestamentlichen Forschung auf das Neue Testament auszudehnen bzw. zu übertragen.

Auch im Göttingen der 80er Jahre wurde bereits religionsgeschichtliche Forschung zur Erklärung alttestamentlicher Phänomene betrieben. So erwähnt Ernst Troeltsch später im Rückblick auf die Anfangsjahre der "Religionsgeschichtlichen Schule" als deren Lehrer noch den Alttestamentler Bernhard Duhm (1847-1928), der seit 1877 als Extraordinarius in Göttingen wirkte, sowie den Professor für Orientalistik Paul Anton de Lagarde (1827-1891):

    "Beide haben uns nun ihrerseits in die Religionsgeschichte hineingetrieben und brachten uns zu einem immer gründlicheren Bruche mit Ritschls Auffassung der Bibel. Von Ritschl blieb Systematik, Strenge des Charaktereinflusses und Liebe zu den reformatorischen Quellenschriften."
      [Ernst Troeltsch, Die "kleine Göttinger Fakultät" von 1890, in: ChW 34 (1920), Sp. 281-283, hier Sp. 282; wieder abgedruckt in: Lüdemann/Schröder, S. 22f.]

Bernhard Duhm begann bereits während seiner ersten Jahre als Privatdozent, die Entwicklung der alttestamentlichen Religion anhand einer umfassenden Erforschung der Prophetie darzulegen. Bereits in seinem Frühwerk "Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion" (Bonn 1875) bemühte er sich, "aus den individuellen und geschichtlichen Aspekten jeder einzelnen Prophetie des Alten Testaments eine zusammenhängende Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion zu gewinnen" [Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 31982, S. 276].

Dabei versuchte Duhm bewußt, auf jegliches theologische oder religionsgeschichtliche Vorverständnis zu verzichten. Unter "Aufgebung selbst berechtigter und bewährter Voraussetzungen" wollte Duhm "den Gegenstand für sich selbst reden [...] lassen" [Bernhard Duhm, Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion, Bonn 1875, S. 2. Ob eine voraussetzungslose Beschäftigung mit der Geschichte bzw. Theologie überhaupt möglich ist, muß allerdings stark bezweifelt werden]. So wies er eine heilsgeschichtliche Abfolge vom Alten zum Neuen Testament ausdrücklich zurück, da diese Voraussetzungen einführe, die über die Feststellung eines historischen Zusammenhangs hinausgingen:

    "Das wissenschaftliche, ideelle Interesse des christlichen Theologen am alten Testament ist genügend so ausgesprochen wie motivirt durch die Anerkennung des historischen Zusammenhangs zwischen der israelitischen und der christlichen Religion und der Zweck alttestamentlicher Arbeit vollkommen umgrenzt durch die Aufhellung dieses Zusammenhangs zu Gunsten besserer Erkenntnis des Christenthums. Jeder materielle Zusatz über das Wie und Warum, der vor der Befragung des Stoffes selbst jenes Interesse stärkt oder schwächt und diesen Zweck verkürzt, ist Vorurtheil und führt zur Tendenz. In diesem Fall aber ist nicht allein der wissenschaftliche Character dahin, sondern auch der theologische verfälscht [...]."
      [Ebd.]

Dieser rein historische Forschungsansatz gipfelte in Duhms ebenso kurzem wie prägnanten Religionsbegriff, der von den "Religionsgeschichtlern" voll akzeptiert wurde: RELIGION IST GESCHICHTE. [Vgl. hierzu unbedingt: Carl Albrecht Bernoulli, Die wissenschaftliche und die kirchliche Methode in der Theologie. Ein encyklopädischer Versuch, Freiburg/Leipzig/ Tübingen 1897, speziell 4. Das Wesen der wissenschaftlichen Theologie, S. 86-107.]

Ebenso übernahmen die "Religionsgeschichtler" Duhms Wissenschaftsverständnis: "Eine wissenschaftliche, d.h. sachgemäße Forschung läßt sich bloss von der Sache leiten, die ist aber weder konservativ noch liberal. [...] Von dem wissenschaftlichen Theologen soll man kein Eintreten für die konservative oder liberale Sache verlangen, denn man würdigt dadurch sowohl die Wissenschaft als die Religion herab, die erstere, weil man ihr unsolide Ausbeutung von unsicheren Werten zumutet, die letztere, weil man sie von menschlichen Erkenntnissen und Agitationen abhängig glaubt" [Bernhard Duhm, Über Ziel und Methode der theologischen Wissenschaft. Antrittsvorlesung in der Aula der Universität zu Basel am 7. Mai 1889, Basel 1889, S. 24f].

Die Vorliebe der "Religionsgeschichtler" für Paul Anton de Lagarde, einem massiven Kritiker Ritschls, der "den Gedanken der Entwicklungsgeschichte der Religion von allen dogmatischen und metaphysischen Verwertungen losgerissen und ein unbefangenes, an das Objekt sich hingebendes, mit allen Mitteln gewissenhafter Forschung betriebenes Studium der Religionsgeschichte" [Troeltsch, S. 59] verlangte, wird schon äußerlich ersichtlich aus der Tatsache, daß Eichhorn, Gunkel, Hackmann, Otto und Rahlfs dessen Vorlesungen besuchten, obwohl er im allgemeinen nur sehr wenige Hörer hatte.

De Lagarde war neben seiner Fachkenntnis der Orientalistik auch Kenner des griechischen Alten Testaments. Seine Lebensaufgabe fand er darin, den Ursprungstext der Septuaginta zu rekonstruieren - diese Aufgabe vollendete nach de Lagardes Tod dessen Schüler und Mitglied der "kleinen Göttinger Fakultät", Alfred Rahlfs -, gemäß der Überzeugung, daß die Rekonstruktion der Urgestalt der biblischen Texte eine unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung der wahren christlichen Religion sei [Vgl. aber zur Problematik dieser vereinfachenden Reduktion unbedingt: Hanhart, S. 285ff]. "Sein Ziel, das ewig mit dem Namen Lagarde verbunden sein soll, ist die Bewahrung der Überlieferung als Grund der Verifizierung und der Erfahrung der Geschichte" [A.a.O., S. 285.].

Doch auch von de Lagarde emanzipierten sich die "Religionsgeschichtler", nämlich in ihrer anderen Bestimmung des Wesens von Geschichte in ihrem Verhältnis zur Religion. Während jener aus seinen Forschungen "die Forderung einer nationalen Bestimmung und Differenzierung der christlichen Religion und ihre visionäre Konzeption als 'Religion der Zukunft'" [A.a.O., S. 301] ableitete, so stand für diese die Entstehungszeit des Christentums, "der Vergleich analoger Phänomene in verschiedenen Religionen und die Frage nach Vorstellungen fremder Religionen, die in die israelitisch-jüdisch-christliche Überlieferung Eingang gefunden haben" [A.a.O., S. 300f.], im Mittelpunkt ihres Interesses [Ebd. Vgl. zum Theologieverständnis de Lagardes bes.: Bernoulli, S. 86-107].

Neben Ritschl, de Lagarde und Duhm gelten noch andere in Göttingen wirkende Personen als wissenschaftliche Lehrer der angehenden "Religionsgeschichtler": der Alttestamentler und Systematiker Hermann Schultz (1836-1903), der Kirchengeschichtler Hermann Reuter (1817-1889) - als dessen Schüler besonders Karl Mirbt gelten kann - und der Philosoph Hermann Lotze (1817-1881), bei dem Eichhorn 1877/78 noch studiert hatte:

    "Von allen Vorlesungen hat nur eine einzige auf meine theologische Richtung entscheidenen Einfluß gewonnen: die Vorlesung über ATl. Theologie von Hermann Schultz. Historische Methode habe ich von Reuter gelernt. Mehr als den Genannten verdanke ich Lotze. Seine Weltanschauung ist die meinige."
      [Lebenslauf Eichhorns. Abgedruckt bei: Ernst Barnikol, Albert Eichhorn (1856-1926). Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1960, S. 141-152, hier S. 141.]

Speziell über Reuter hatte sich Eichhorn bereits in seinem Loccumer Lebenslauf von 1882 sehr positiv geäußerte:

    "In Göttingen [...] zog mich Reuter sehr an durch seine vorzügliche Methode, welche mich zum Quellenstudium mit Vorliebe erfüllte und mir starkes Mißtrauen gegen historische Darstellungen, welche ich nicht selbst zu controllieren vermag, eingeflößt hat."

Daher legten Eichhorn - und generell alle "Religionsgeschichtler" - besonderen Wert auf ein intensives Quellenstudium. Doch nicht allein Text- und Literarkritik zum Zwecke der Herstellung eines von allen Zusätzen gereinigten Grundtextes war ihnen wichtig (wie es die Verteter der historisch-kritischen Methode im allgemeinen und de Lagarde im besonderen lehrten). Diese Methoden waren ihnen lediglich Voraussetzung für ihr eigentliches Ziel: der hinter die Traditionen bzw. Überlieferungen zurückführenden Erforschung der historischen Zusammenhänge, die der Bildung von Überlieferungen und Traditionen immer vorangingen. Auch an dieser Stelle rückte der (antike) Mensch mit seiner gesamten Glaubenswelt in den Brennpunkt ihres Interesses.

Für ein solches Vorhaben waren jedoch noch präzisere und umfassendere philologische Kenntnisse erforderlich, als ohnehin schon von der historisch-kritischen Theologie der Zeit verlangt. Aus dieser Notwendigkeit heraus ist es zu erklären, daß für alle Religionsgeschichtler das Studium der Altphilologie einen besonderen Stellenwert einnahm. Ihr Leben lang standen sie in regem Austausch mit Altphilologen wie z.B. Hermann Usener, Albert Dieterich, Johannes Geffcken, Eduard Norden, Richard Reitzenstein, Paul Wendland.

An der Göttinger Universität lehrte seit 1883 der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1848-1931), der bereits in jungen Jahren den Ruf eines revolutionären Neuerers der Altertumskunde erworben hatte [Wilamowitz war ein Schüler des in Bonn lehrenden Altphilologen Hermann Usener. Dieser hatte selbst Schriften zur Religionsgeschichte verfaßt (z.B. Religionsgeschichtliche Untersuchungen, Bonn 1889) und war maßgeblich an der Bildung eines (eigenständigen) "religionsgeschichtlichen Kreises" in Bonn beteiligt. Wichtig wurde Useners These, daß sich unter gleichen seelischen Bedingungen bei verschiedenen völlig voneinander getrennten Völkern gleiche Vorstellungen entwickeln würden]. Im Sommersemester 1885 hörten Eichhorn, Gunkel und Wrede bei diesem die Vorlesung "Geschichte der griechischen Literatur von Alexander bis auf Augustus". Auch Heitmüller besuchte später dessen Veranstaltungen. Besonders die von Wilamowitz propagierte "Idee einer Altertumskunde, die nicht wie bis dahin üblich nur die Philologien, sondern gleichwertig auch die alte Geschichte, Archäologie und diverse Hilfswissenschaften umfaßte und zu einem Ganzen integrieren wollte [...] [, sowie] die gleichmäßige und gleichwertige Behandlung der nachklassischen griechischen Geschichte, Kultur und Literatur" [Lüdemann/Schröder, S. 36] übernahm der "Eichhorn-Kreis". Von diesem Ansatz aus wird auch dessen anfängliche Vorliebe für die Behandlung nichtkanonischer Schriften und die Konzeption einer integrierten Religionsgeschichte verständlich.

Gleichzeitig wuchs mit der Behandlung außerkanonischer bzw. nicht-theologischer Quellen das Interesse an der antiken (jüdischen) Geschichte und Kultur stark an.

Vor allem Julius Wellhausen (1844-1918), der Nachfolger des 1891 verstorbenen de Lagardes in Göttingern, muß deshalb zu den Lehrern der "Religionsgeschichtler" gezählt werden. Seine streng historische Methode der Erarbeitung eines Problemgebiets wurde von diesen hoch geschätzt:

    "In rastloser Arbeit und Schwerarbeit sein konkretes und einzelnes Forschungsgebiet ergreifend, vom festen Punkte aus methodisch weiterschreitend, in konzentrischen Kreisen das eigene Objekt erweiternd, und mehr schweigend als redend, fast scheu und von ferne es beziehend auf letzte und höchste Idee, so steht er vor uns als ein klassischer Typus modernen Akademikers."
      [Rudolf Otto, Sinn und Aufgabe moderner Universität, Marburg 1927, S. 16.]

Besonders sein auf sorgfältiger Quellenkritik basierendes Werk "Israelitische und jüdische Geschichte" (Berlin 1894) übte großen Einfluß auf die "Religionsgeschichtler" aus. "Sein Zauberstab brachte [...] die Texte zum Reden und ließ fernes und fremdes Leben in seiner Buntheit und oft Wildheit wieder erstehen [...]"[Rudolf Smend, Wellhausen in Göttingen, in: Moeller, S. 306-324, hier S. 320].

Den Vergleich von Religionen dagegen verabscheute Wellhausen - er vermochte in der Erforschung der Entwicklung und Geschichte von Stoffen und Traditionen lediglich ein 'antiquarisches Interesse' zu erkennen - und so lehnte er die Rolle eines "Vaters der Religionsgeschichtlichen Schule" trotz des ihm von dieser entgegengebrachten Respekts zeitlebens vehement ab.

Alf Özen, 1996