Mitglieder der "Religionsgeschichtlichen Schule"



















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Heinrich Hackmann (1864-1935)

Dt. evg. Theologe, geb. am 31.8.1864 in Osnabrück. Studium in Leipzig und Göttingen, 1893 Privatdozent ebd., 1894 Pastor der dt. Gemeinde in Shanghai, 1904 Pfarrer der dt. Gemeinde in Denmark Hill, London, 1913 ordentl. Professor für Religionsgeschichte in Amsterdam, 1934 emeritiert. Gest. am 13.7.1935 in Hildesheim.

Ein deutscher Pfarrer in China

(Veröffentlicht als: Der Traum von fernen Ländern ging in Erfüllung. Pfarrer Heinrich Hackmann wirkte von 1894-1901 in Schanghai [Teil I und II]. In: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, Beilage "Aus der Heimat", 2.12.1995 und 6.1.1996.)

Wie viele Jugendliche am Ende des 19. Jahrhunderts träumte Heinrich Hackmann davon, ferne Länder zu bereisen und fremde Kulturen kennenzulernen. Doch was für die meisten nur ein Wunsch blieb, ging für ihn in Erfüllung: viele Jahre lang sollte er in Ostasien leben. Auf seinen mehrjährigen Wanderungen gelangte er dabei auch in Gegenden, die zuvor noch nie ein Europäer besucht hatte. Doch gegen Ende seines Lebens kehrte er 1934 in eine Stadt zurück, der sein Herz seit Jugendzeiten gehörte und in der er seine berufliche Karriere begonnen hatte: er siedelte nach Hildesheim über, wo er 1935 verstarb.


Heinrich Hackmann wurde am 31. August 1864 in Gaste bei Osnabrück geboren. Er war der dritte von vier Söhnen eines in christlich-erweckter Religiösität lebenden Elternpaares. Doch schon in frühen Jahren regte sich bei Heinrich Widerspruch gegen die fromme, streng bibelgläubige Lebensüberzeugung seiner Mutter, die seit dem frühen Tod des Vaters die Söhne alleine aufzog. Diese kritische Haltung verstärkte sich noch während der Schuljahre.

Hackmann faßte den Entschluß, Pastor zu werden. Er studierte ab 1883 Theologie in Leipzig, wo ihn besonders eine Vorlesung über "Geschichte und Lehre des Buddhismus" faszinierte und zu eigenständiger weiterer Beschäftigung mit dem Thema anregte. Einige seiner späteren Vorträge dürften auf diese frühe Beschäftigung mit der Gedankenwelt des Buddhismus zurückgehen. 1886 schloß er sein Studium an der Universität Göttingen ab, wo er besonders von Albrecht Ritschl (1822-1889) beeinflußt wurde.

In seiner Suche nach Lösungen für ihn quälende Fragen entwickelte der junge Heinrich einen fast unstillbaren Wissensdrang. Besonders neuartige naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die in Widerspruch zu traditionellen religiösen, biblisch-christlichen Überzeugungen zu stehen schienen, faszinierten ihn. Seine Beschäftigung mit der Darwin'schen Entwicklungslehre, die in jenen Tagen auch auf die Entwicklung der einzelnen Religionen übertragen wurde, ließen ihm eine Frage immer wieder auftauchen: War das Christentum nur eine Stufe in der religiösen Entwicklung, fragte er sich, vielleicht die höchste, die die Menschheit bisher erstiegen hatte? Dann war es nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, daß sich irgendwann in der Zukunft über dieses hinausgehende Religion entwickeln würde. Das Christentum als "absolute und allgemeingültige Religion" war für ihn damit nicht mehr haltbar.

Hier wurde ihm erstmals das Auseinanderklaffen von wissenschaftlicher Erkenntnis einerseits sowie kirchlicher Lehre und Tradition mit all ihren verbindlichen und verpflichtenden Glaubensformeln andererseits bewußt. Kritisch stand er jedem Versuch gegenüber, Lebendiges in Normen zu pressen oder zu dogmatisieren, sei es im Bereich der Religion oder im menschlichen Zusammenleben. So reiften in ihm erste Zweifel, ob er tatsächlich den Pastorenberuf würde ergreifen können, da er vor seinem Gewissen die bindenden Bekenntnisformulierungen ablehnen müsse, die nicht mit seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmten. Wie viele andere Studenten auch, verließ er die Universität mit der Erfahrung, im Laufe des Studiums aus den Bahnen der traditionellen Theologie hinausgeschleudert worden zu sein, ohne wiederkehren zu können.

Noch im selben Jahr nahm Hackmann eine Lehrerstelle an einer Privatschule in Schulenburg bei Nordstemmen an. Bald hörte er von einer zu Ostern 1887 freiwerdenden Stelle an der Privattöchterschule von Frl. Minna Hoyermann in Hildesheim (Langer Hagen). Hier verbrachte er die nächsten zwei Jahre.

Frl. Henriette Wilhelmine Hoyermann (1834-1919), eine ältere unverheiratete Dame, hatte 1870 in Hildesheim ein Haus erworben, in dem sie eine Töchterschule mit Pensionat (vor allem für junge Mädchen vom Lande) eingerichtet hatte. Bald nahm "Tante Minna" für Hackmann die Stelle einer Ersatzmutter ein; seine eigene war 1883 verstorben. Sie war es auch, die ihn mit dem jungen Rudolf Otto zusammenführte, der sich in dieser Zeit auf sein Abitur am Gymnasium Andreanum vorbereitete. Hackmann wurde für diesen zum älteren, fast väterlichen Freund, Vorbild und Lehrer. Diese enge Freundschaft verband die beiden ihr Leben lang. Otto sollte später zu einem berühmten Theologen avancieren. Sein Buch "Das Heilige" (1917), in dem er auch Gedanken Hackmanns weiterführte und verarbeitete, wurde zur weltweit meistverkauften theologischen Publikation des 20. Jahrhunderts mit Übersetzungen in viele Sprachen, darunter Japanisch und Sanskrit.

In Hildesheim erlebte Hackmann seine erste, wenn auch tragische Liebe. Mathilde Wilken war ebenfalls Lehrerin an der Töchterschule von Minna Hoyermann und einige Jahre älter als Hackmann (sie 32, er 24). Trotzdem verlobten sich die beiden heimlich an Weihnachten 1888, wohl wissend, daß "Tante Minna" diesen Schritt nie gutheißen würde. Doch Hildesheimer Bürger nutzten die ihnen bekanntgewordene Verlobung, um die vermeindlich an Fräulein Hoyermanns Institut herrschenden "unmoralischen Verhältnisse" anzuprangern und Tante Minna Unterstützung unsittlicher Zustände vorzuwerfen. Diese wiederum verlangte von Hackmann, der inzwischen im Kloster Loccum kurz vor der Beendigung seiner Ausbildung für den praktischen kirchlichen Dienst stand, die Auflösung der Verlobung. Auch Mathilde Wilken befürwortete am Ende diesen Schritt. Hackmann brauchte Jahre, um dies zu überwinden. "Tante Minna" schließlich schloß 1891 ihre Töchterschule und eröffnete in Hoheneggelsen ein Erholungsheim, in dem sowohl Heinrich Hackmann als auch Rudolf Otto oft zu Gast waren.

Nach Beendigung seiner kirchlichen Ausbildung ging Hackmann nicht sofort in den Gemeindedienst, obwohl er sich zu diesem berufen fühlte. Grund dafür war seine schon zuvor erwähnte Gewissensnot, den Pfarrerberuf aus "Bekenntnisgründen" nicht ergreifen zu dürfen. Denn das Einschwören auf ein "Bekenntnis" bedeutete für ihn eine Zwangsjacke, die sich Pastoren trotz vielfach gegenteiliger Überzeugung freiwillig anzögen. So erhoffte er sich von einem Aufschieben der endgültigen Entscheidung eine eventuelle Klärung seines problematischen Amtsverständnisses.

Hackmann entschloß sich, zunächst eine akademische Karriere anzustreben. Eine Gelegenheit hierzu bot sich ihm, als in Göttingen die Stelle als Inspektor des Theologischen Stifts, einer Wohneinrichtung für mittellose und begabte Theologiestudenten freiwurde. Diesen Posten füllte Hackmann von 1891-93. Theologisch entwickelte er sich immer mehr in Richtung auf eine radikalere Ausrichtung der sog. liberalen Theologie zu, deren Hochburg zu Beginn der 90er Jahre Göttingen war. Einer ihrer Grundsätze war, daß man jeden geschriebenen Text nur mit dem Hintergrundwissen um dessen Schreiber verstehen könne. Dazu wäre es notwendig, dessen Herkunft, soziales Umfeld und Lebensgemeinschaft/-situation näher zu beleuchten. Für den konkreten Fall der Untersuchung biblischer Texte bedeutete dies, daß man sich ein fundiertes Wissen über die Lebensgewohnheiten der (antiken) orientalischen Völker verschaffen müsse. Diesem Zweck diente auch das Studium der Archäologie, da hier ein Teil der damaligen Lebenssituation erhalten und wieder zum Leben erweckt werden könne.

So wird es verständlich, warum Hackmann Reisen als wichtig erachtete: Er wollte die Originalorte besichtigen, an denen die antiken Texte spielten, um so einen eigenen Eindruck von deren Entstehungssituation zu gewinnen. Im Spätsommer 1891 schließlich unternahm er zusammen mit Rudolf Otto, der inzwischen auch in Göttingen studierte, und einem weiteren Freund eine Studienreise nach Griechenland und Konstantinopel, auf der er auch seine jüngst erworbenen arabischen Sprachkenntnisse anwenden konnte. Dabei liebte Hackmann es jetzt, wie auch später immer, sich zu Fuß oder im langsamen Pferdekarren fortzubewegen, um so möglichst viele Eindrücke in sich aufnehmen zu können.

Im Frühjahr 1893 schließlich habilitierte sich Hackmann mit einer Arbeit über "Die Zukunftserwartung des Jesaja" für das Fach "Altes Testament". Nun war er also Privatdozent mit der Pflicht, an der Universität Vorlesungen zu halten. Eine regelmäßige Besoldung gab es für dererlei Arbeit nicht. Doch gerade kritische Theologen, noch dazu mit einer Abneigung gegen die herkömmlich Dogmatik wie Hackmann, wurden nicht allzu häufig auf vakante Professuren berufen. Begabung und Befähigung waren dabei nicht allein ausschlaggebend.

Gewissensgründe hatten ihn damals von einem Eintritt in das Pfarramt zurückgehalten. Jetzt waren es die zu erwartenden finanziell entbehrungsreichen Jahre, die ihm die Freude am akademischen Beruf nahmen. So schien es ihm fast wie eine Fügung des Schicksals, als er im November 1893 in einer Zeitschrift die Anzeige von der vakanten Pfarrstelle in der neugegründeten deutschen evangelischen Gemeinde in Schanghai las. Denn in den überseeischen Missionsgemeinden ging es theologisch und kirchlich freier zu als in den festgefügten Strukturen der deutschen Landeskirchen. Darüber hinaus meinte er in China seine religionsvergleichenden Studien zum Buddhismus gewissermaßen "vor Ort" fortsetzen zu können.

Hackmann stellte sich dem für die Besetzung der Stelle zuständigen Gremium in Berlin vor. Gleichzeitig machte er sofort die Einschränkung, die Stelle nur übernehmen zu können, wenn er seine kritische Auffassung gegenüber kirchlicher Lehre und traditionsgebundenen Frömmigkeitsformeln, die ihm Zwang und Beschränkung bedeuteten, in der Gemeinde uneingeschränkt vertreten dürfe. Denn er hielt es einer Gemeinde gegenüber für oberste Pflicht, sie von für moderne Menschen unverständlichen kirchlichen Formeln und Formulierungen zu befreien. Ihm wurde zugesichert, daß er liturgische Formulierungen selbst würde wählen oder gestalten können, die dem religiösen Anliegen des modernen Menschen einsichtig, verstehbar und nachvollziehbar wären.

Hackmann wurde zum Pfarrer gewählt und traf nach sechswöchiger Überfahrt im April 1994 schließlich in Schanghai ein. Dort bestand die deutsche Bevölkerung vorwiegend aus Kaufleuten, zum Konsulatsdienst gehörenden Beamten sowie Seeleuten. Anders als Engländer, Amerikaner und Franzosen lebten die Deutschen jedoch nicht in einem eigenen Stadtviertel, sondern verteilt im gesamten Stadtgebiet. Feste Gemeindestrukturen existierten daher noch nicht, auch eine eigene Kirche gab es nicht; zu Gottesdiensten wurde das methodistische Kirchengebäude der englischen Union-Church mitgenutzt.

So war es Hackmanns vorrangiges Ziel, ein intaktes Gemeindeleben zu etablieren. Da das einende Element aller Gemeindmitglieder ihr Deutschtum war, versuchte er, die Menschen auf diesem Wege anzusprechen. Alle 14 Tage hielt er Vorträge zu den verschiedensten Themen (z.B. "Deutsches Leben vor 100 Jahren", "Mohammed und der Islam", "Henrik Ibsen und seine Dramen", "Charles Darwin", "Goethe in seinen Beziehungen zu berühmten Zeitgenossen", "Der Buddhismus" oder "Das Leben Jesu"). Auf vielfachen Wunsch veröffentlichte er schließlich diese Vorträge im "Ostasiatischen Lloyd", einer regelmäßig erscheinenden Zeitschrift, so daß auch die Deutschen im Inneren Chinas von diesen Veranstaltungen profitieren konnten. Ebenso ließ er von 1895 bis 1901 seine Sonntagspredigten unter dem Titel "Sonntagsgruß an die Deutschen in Ostasien aus der deutschen Gemeinde in Schanghai" regelmäßig drucken.

Hackmann bemühte sich auch, die durchreisenden deutschen Seeleute in die Gemeinde zu integrieren. So lud er ab Sommer 1894 Seeleute zu "wöchentlichen Gesellschaftsabenden" in die Gemeinde ein. Seit Mai 1897 schließlich stand den Seeleuten ein von der Gemeinde gemieteter Raum als "Lesezimmer" zur Verfügung, das sie zahlreich besuchten. Für eine schlichte Verköstigung sorgten Frauen aus der Gemeinde. Dieses Engagement in der "Seemannsmission" hatte Vorbildcharakter und wurde von vielen überseeischen Hafenstädten übernommen.

Die Kinder der in Schanghai ansässigen Auslandsdeutschen waren nur in den wenigsten Fällen, und dann nur in geringem Maße, der deutschen Sprache mächtig. So begann Hackmann, diese regelmäßig in der deutschen Sprache, aber auch in anderen "Schulfächern" wie Literatur und Geographie, zu unterrichten. Hierbei kam ihm seine in Hildesheim erworbene Erfahrung als Lehrer zugute. Seine Schule sollte "das Deutschtum weit über Schanghai hinaus erhalten und fördern" und den Kindern eine heimatgerechte Ausbildung ermöglichen.

Im ersten Jahr besuchten 25 Schüler den Unterricht; später waren es mehr als doppelt so viele. Die zur Unterstützung Hackmanns eingestellte Lehrerin erkrankte jedoch bald und kehrte schon im Herbst 1895 nach Deutschland zurück. Als Ersatz wurde Gabriele Vogler aus Altona verpflichtet, die im April 1896 ihren Dienst antrat. - Weihnachten 1897 verlobte sie sich mit Heinrich Hackmann, und im April 1898 heirateten die beiden. Doch wurde ihr Eheglück getrübt, als ihr 1899 geborener Sohn kurz nach der Geburt an einem medizinischen Fehler verstarb. Diesen Schicksalsschlag überwanden die beiden nie völlig; die Ehe blieb danach kinderlos.

Die weiterhin anwachsende Schülerzahl der deutschen Schule, durchweg Kinder aus dem Kaufmannsstand oder der Konsulatsangehörigen, nötigte den Schulverband schließlich, die finanzielle Voraussetzung zum Erwerb eines geeigneten Gebäudes für die Schule und die Einstellung weiterer Lehrkräfte zu schaffen. Es wurde ein Haus angemietet, in der Schule und Pastorenwohnung gemeinsam Aufnahme fanden. Schließlich errichtete die Gemeinde ein eigenes Schulgebäude, das Hackmann im September 1901 eröffnete. Ebenfalls 1901 wurde der Bau einer eigenen Kirche vollendet, die Hackmann zum Abschluß seiner Tätigkeit in Schanghai weihen konnte.

7 1/2 Jahre war Hackmann als Pastor (und Lehrer!) in Schanghai geblieben. Er blickte zurück auf eine lange und äußerst fruchtbare Schaffensperiode. Erst unter seiner Leitung konnte sich die Gemeinde konstituieren. "Seine" Schule hatte Vorbildcharakter für die deutschen Überseegebiete (u.a. informierten sich Admiral Tirpitz und Prinz Heinrich vor Ort über diese Einrichtung). Auch im seelsorgerischen Bereich hatte sich Hackmann hochverdient gemacht. Nicht nur seinen Gemeindemitgliedern, sondern auch den durchreisenden Seeleuten und - durch seine rege Publikationstätigkeit - den Deutschen im übrigen Ostasien konnte er ein Stück Heimat vermitteln. Für seine Verdienste in Schanghai wurden ihm der Rote Adler-Orden IV. Klasse und die China-Gedenkmünze verliehen.

Doch Hackmann kehrte nicht sogleich nach Deutschland zurück. Es war von vornherein eines seiner erklärten Ziele gewesen, religionsvergleichende Studien in Ostasien zu treiben. Intensiv hatte er inzwischen Chinesisch gelernt, auch ein wenig Japanisch, und war bereits einige Male zu Kurzaufenthalten in benachbarten chinesischen Regionen sowie in Japan gewesen. Auch Aufsätze zur chinesischen Sprache hatte er inzwischen veröffentlicht. Doch nun wollte er auf Reisen aus eigener Anschauung gründlichere Kenntnisse über den chinesischen Buddhismus und Taoismus sammeln.

Zwar war der Buddhismus in Deutschland keine "unbekannte Größe" mehr; es gab schon vereinzelte Veröffentlichungen darüber. Um jedoch "das Leben einer Religion" wirklich kennenzulernen, bedurfte es noch umfassender eingehender Forschung, die nur "vor Ort" zu leisten war. Für besonders wichtig zum Verstehen einer Religion hielt Hackmann das Aufspüren ihres besonderen "Gefühlslebens", gleichsam ihres "Lokalkolorits", das sie von anderen Religionen unterschied. Über den chinesischen Buddhismus gab es in diesem Bereich bisher kaum Forschungsergebnisse: Das Wissen um Kultus, Geschichte und Empfindungsleben dieser Religion war sehr dürftig und unzureichend.

Seine Reise (fast ausschließlich zu Fuß!), die ihn u.a. in entlegene Gegenden von China, Korea, Tibet und Birma führte, die bisher noch wenige und teilweise noch nie ein Europäer durchquert hatte, dauerte zwei Jahre (1901-1903). Seine Frau war 1902 alleine nach Altona zu ihren Verwandten zurückgekehrt, während Hackmann weiterhin Tempel und Klöster besuchte und intensiv die Art und Weise der religiösen kultischen Übungen studierte. Er sprach ebenso mit einfachen Menschen wie mit dem "Papst" des Taoismus und widmete dabei seine Aufmerksamkeit besonders den Zeugnissen lebendiger Religiösität unter Mönchen und Laien. Unterwegs führte er ein Tagebuch und an den wenigen Tagen, die er an einem Ort verweilte, formulierte er seine Eindrücke und schickte sie an die Zeitschrift "Christliche Welt" in Marburg, um deren deutsche Leser an seinen Erlebnissen teilhaben zu lassen. Zum Abschluß seiner Reise zog er in einem Brief aus Colombo/Sri Lanka vom 26.9.1903 an den Herausgeber dieser Zeitschrift ein Fazit seiner Beobachtungen: "So sehr ich seit langem in den Buddhismus eingetaucht bin und so gerne ich alle seine schönen Seiten anerkenne, nie früher ist mir die Größe und das Überragende des europäischen Christentums so lebendig geworden wie unter diesen Studien des Buddhismus."

Seine Beobachtungen und Gespräche führten ihn zu der Überzeugung, daß die Chinesen in der unaufhaltsam sich ändernden internationalen Welt eines Tages eine schicksalhafte Rolle übernehmen würden. In der Abhandlung "Der schlafende Riese" hatte er schon zuvor die Überzeugung vertreten, China würde Japans Weg der Erneuerung nachvollziehen, wenn auch langsamer und verworrener, dafür aber in der Wirkung riesenhafter. In dieser Konstellation sah er Entwicklungen voraus, die später ähnlich eintrafen.

Im November 1903 nach Deutschland zurückgekehrt, stellte sich für Hackmann erneut das Problem, wie er seine weitere berufliche Karriere gestalten sollte. Er mußte feststellen, daß sich an der Situation von vor 10 Jahren nichts Grundsätzliches geändert hatte. Eine Pfarrstelle in Deutschland zu übernehmen, kam für ihn weiterhin gewissensmäßig nicht in Frage. Eine akademische Karriere mit ihren finanziellen Unwägsamkeiten zu ergreifen, war nun unmöglich geworden, da er eine - wenn auch nur kleine - Familie zu ernähren hatte. Nach vielen Besuchen bei "Tante Minna" in Hoheneggelsen entschied er sich schließlich abermals für einen Pfarrposten im Ausland (1904-1913), diesmal in der deutschen Gemeinde von Denmark Hill (London). War er in Schanghai noch der eigentliche Gründer und Erbauer der Gemeinde gewesen, so fand er in Denmark Hill eine Gemeinde mit einer ihm durchaus genehmen Tradition vor, in die er sich problemlos einfügte.

Während dieser neuen Tätigkeit fand er die Zeit, seine Erkenntnisse über Ostasien im allgemeinen und den chinesischen Buddhismus im besonderen zu Papier zu bringen. Neben unzähligen Aufsätzen entstanden "Klassiker" der Buddhismusforschung wie: "Omi bis Bhamo. Wanderungen an der Grenze von China, Tibet und Birma" (1904), "Der Buddhismus" (3 Bände 1905/6), "Buddhismus as a Religion" (1910) sowie "Welt des Ostens" (1912), die teilweise noch heute erhältlich und immer noch lesenswert sind.

In den letztgenannten Band flossen schon Hackmanns neue Erkenntnisse ein, die er sich auf einer zweiten Chinareise von 1910-12 verschaffte. Anfang Oktober 1910 reiste er gemeinsam mit seiner Frau mit der Transsibirischen Eisenbahn in die Mongolei, im Pferdewagen durch die Wüste Gobi weiter nach China, besuchte u.a. Peking und seine Freunde in Schanghai. Er lebte für mehrere Monate in einem taoistischen Kloster im Inneren Chinas, um Lebensweise, Organisation und Heiligtümer der taoistischen Mönche eingehender kennenzulernen. Anschließend besuchte er Japan, Hongkong, Saigon, Bangkok, Singapur und den Himalaya, bevor er von Bombay aus nach London zurückkehrte und im April 1912 seine Gemeindetätigkeit wieder aufnahm.

Doch bereits 1913 wurde er aufgrund seiner hervorragenden Kenntnisse fernöstlicher Religionen, die er in seinen unzähligen Veröffentlichungen immer wieder unter Beweis gestellt hatte, als Professor für "Allgemeine Religionsgeschichte" an die ganz von jedem kirchlichen Einfluß unabhängige Universität Amsterdam berufen. So konnte Hackmann in seinem letzten Lebensabschnitt doch noch eine akademische Position bekleiden, die ihm zuvor aufgrund ungewisser finanzieller Verhältnisse verwehrt geblieben war. Von nun an widmete er sich ganz der Verarbeitung und Vergleichung von Materialien aus allerlei Gebieten der Religionsforschung. In dieser Spätzeit entstanden so wichtige Veröffentlichungen wie "Allgemeine Religionsgeschichte" (1919), "Laien-Buddhismus in China" (1922) und "Der Zusammenhang zwischen Schrift und Kultur in China" (1928). 1951 erschien auch noch das von ihm begonnene und bis zum Buchstaben T entwickelte "Buddhistisch-chinesische Wörterbuch", ein Lexikon zur Erklärung von zum Verständnis des Buddhismus wichtigen Ausdrücken und Begriffen, das bis heute in diesem Bereich ein unentbehrliches Hilfsmittel darstellt.

Bis 1934 blieb Hackmann in Amsterdam, bevor er sich - jetzt 70 Jahre alt - zur Ruhe setzte. Nun kehrte er nach Deutschland zurück. Als Altersruhesitz hatte das Ehepaar Hildesheim gewählt, die "sehr hübsche, an alten schönen Bauwerken reiche Stadt", in der Heinrich seine erste Liebe erlebte und wo er bleibende Freundschaften geknüpft hatte. Doch bereits weniger als ein Jahr später, am 16. April 1935, traf ihn ein harter Schicksalsschlag: Seine Ehefrau, von längerer Krankheit und Einsamkeit gezeichnet, nahm sich in einem Anfall von Depression das Leben. Dies verwand Heinrich Hackmann nicht mehr. Seine Schwägerin nahm ihn in ihrem Haus in Ahrenshoop an der Ostsee auf. Doch Hackmann, ohnehin an Herz- und Atembeschwerden kränkelnd, verzweifelte zusehends. Am Morgen des 13. Juli 1935 wurde er tot am Strand der Ostsee gefunden. Die offizielle Todesursache lautete auf Selbstmord. Doch wie bei seinem Freund Rudolf Otto zwei Jahre später bleiben auch hier viele Fragen offen.

Heinrich Hackmann wurde an der Seite seiner Ehefrau auf dem Hildesheimer Zentralfriedhof beigesetzt.


Literatur

1997 erschien in der Reihe "Studien und Texte zur 'Religionsgeschichtlichen Schule'" (STRS 2) im Peter-Lang-Verlag eine ausführliche Biographie über Heinrich Hackmann durch Dr. Fritz-Günter Strachotta, Bremen.

Alf Özen, 1995