Die "Religionsgeschichtliche Schule"


















Kurzeinführung
Der rel.gesch. Ansatz
Die Keimzelle
Die theol. Väter
Der ak.-theol. Verein
Die kleine Fakultät
Das theol. Stift
Die Germania
Rel.gesch. Kreise
Die Bildung der RGS
Absolutheit des Chr.
Popularisierung
Vier Prinzipien
Rezeption der RGS
Perspektiven der RGS

Die Popularisierung theologischer Forschungsergebnisse

(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)

1897 kehrte Wilhelm Heitmüller nach Göttingen zurück, um sich für das Neue Testament zu habilitieren. Er wurde der Nachfolger von Rudolf Otto als Stiftsinspektor. Bereits 1891 hatte er in Göttingen studiert und war seitdem mit der "kleinen Göttinger Fakultät" bekannt; seine eigenen theologischen Untersuchungen hatten ihn jedoch unabhängig von dieser zu ähnlichen Erkenntnissen geführt:

    "Es ist mir in meiner Entwicklungszeit nicht vergönnt gewesen, einen Lehrer zu finden, der mich inbezug auf Arbeitsgebiet u. -weise entscheidend beeinflußt u. dem ich mich hätte anschließen können. Wohl meiner niedersächsischen Art entsprechend habe ich mir meinen Weg mühsam u. tastend selbst suchen u. bahnen müssen. Die Richtung wurde mir gewiesen durch das Studium der alten Geschichte u. der Klass.[ischen] Philologie. Daß das Neue Testament nur aus seiner geschichtl.[ichen], d.h. also religionsgeschichtl.[ichen] Umgebung geschichtl. verstanden u. die Eigenart des alten Christentums nur durch die Vergleichung mit seiner religionsgeschichtl. Folie erfaßt werden könne, war mir als Historiker früh selbstverständlich. So kam ich, um des N.T.'s willen, zum Studium nicht nur des Spätjudentums, sondern auch der Religionsgeschichte der hellenist.[ischen] Welt, weiter der allgem.[einen] Religionsgeschichte. Das, was man die 'religionsgeschichtliche Methode' genannt hat, erschien mir als Forderung des geschichtl. Studiums des N.T.'s geboten, ehe ich noch mit dem Göttinger Kreise bekannt wurde, in dem die damals unter Eichhorn's Einfluß bei den Theologen aufkommende 'religionsgeschichtl.' Methode als etwas Neues mit Begeisterung gepflegt wurde; u. die Antithese, die in diesem Kreise, der sich nicht nur von der traditionellen Theologie, sondern auch bis zu einem gewissen Grade von Ritschl hatte frei machen müssen, mit dieser Behandlung des Neuen Testaments u. der Geschichte des Christentums überhaupt unmittelbar verbunden war, war mir fremd."
      [Lebenslauf Heitmüllers aus Bonn (ca. 1921), Album Professorum der Theol. Fakultät, Universitätsarchiv Bonn; Hervorhebungen im Original.]

Solchermaßen ähnlich "radikal" wie Bousset, fanden die beiden bereits 1891 schnell zueinander und waren seitdem eng befreundet. Dies war neben ihren gleichgelagerten theologischen Interessen auch der Tatsache zu verdanken, daß Heitmüller in Göttingen als Kartellphilister am Leben der Burschenschaft "Germania" aktiv teilnahm und dort neben Bousset zur "Führungspersönlichkeit" aufstieg. Bousset und Heitmüller führten die "religionsgeschichtlichen" Untersuchungen zum frühen Christentum über die Beschäftigung mit "spätjüdischen" Einflüssen endgültig hinaus. Speziell der hellenistische Hintergrund des frühen Christentums und der neutestamentlichen Schriften trat jetzt ins Zentrum ihres Forschungsinteresses. Boussets Hauptwerk "Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus" (Göttingen 1913) stellt später die Ergebnisse seiner/ihrer jahrelangen Beschäftigung mit dem Hellenismus dar. [Ein Jahr zuvor hatte Heitmüller - jetzt in Marburg tätig - seine eigenen Erkenntnisse bereits skizzenhaft publiziert ("Zum Problem Paulus und Jesus", in: ZNW 13 [1912], S. 320-337). Nach der Veröffentlichung von Boussets "Kyrios Christos" vernichtete Heitmüller sein fast fertiges Buchmanuskript zum selben Thema, da es zu viele Überschneidungen mit diesem gegeben hätte.]

Gemeinsam gingen von den beiden Göttinger Theologenfreunden wichtige Impulse zur Popularisierung der theologischen Forschungsergebnisse aus, die ein Merkmal der gesamten "Religionsgeschichtlichen Schule" war. So gründete Wilhelm Bousset zusammen mit Wilhelm Heitmüller 1897 die "Theologische Rundschau", die bis 1917 im Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) erschien, bevor sie wegen Papiermangels im Ersten Weltkrieg vorübergehend eingestellt werden mußte. Sie war das erste regelmäßig erscheinende Organ, das von "Religionsgeschichtlern" selbst ins Leben gerufen wurde.
Schon lange hatten die beiden die Notwendigkeit eines Publikationsorgans diskutiert, das die Fülle von Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt für Theologen, speziell aber auch für Pfarrer und Religionslehrer, die sich nicht intensiv mit Fachpublikationen auseinandersetzen konnten, sondierte und rezensierte. Daher machte es sich die "Theologische Rundschau" zur Aufgabe, "die große Kluft, die sich allmählich zwischen der theologischen Wissenschaft und dem praktischen Amt aufgethan hat, soweit als möglich zu überbrücken" [So in: "Zur Einführung", ThR 1 (1898), S. 1]. Es war beabsichtigt, diejenigen Theologen,

    "welche nicht mehr in unmittelbarer Verbindung mit der Universitäts-Theologie stehen und durch ihre Berufsaufgaben daran gehindert sind, die wissenschaft- lich-theologische Arbeit auf allen ihren Gebieten durch das dazu erforderliche Einzelstudium zu verfolgen, über die Methode und Arbeit der theologischen Wissenschaft, über die Fortschritte und Hauptströmungen in den einzelnen Disziplinen zu unterrichten und auf dem Laufenden zu halten."
      [A.a.O., S. 2.]

Während sich diese Zeitschrift noch hauptsächlich an "Fachleute" oder zumindest "Interessierte mit Vorkenntnissen" richtete, verfolgte die "Religionsgeschichtliche Schule" durch ihre rege Vortragstätigkeit jedoch das noch weit ehrgeizigere Ziel der Aufklärung theologischer Laien, der "gebildeten Schichten" des Volkes. Besonders eindringlich forderte Hermann Gunkel in seinem "Notschrei nach volkstümlicher theologischer Literatur" von 1900:

    "Wollte Gott, ich hätte eine Stimme, die an die Herzen und Gewissen der theologischen Forscher dringt, so wollte ich Tag und Nacht nichts Anderes rufen, als dies: Vergeßt nicht eure heilige Pflicht an eurem Volk! Schreibt für die Gebildeten! Redet nicht soviel über Litterarkritik, Textkritik, Archäologie und alle andern gelehrten Dinge, sondern redet über R e l i g i o n ! Denkt an die H a u p t s a c h e ! Unser Volk dürstet nach euren Worten über die R e l i g i o n und ihre G e s c h i c h t e ! Seid ja nicht zu ängstlich und glaubt ja nicht, das, was ihr erkannt habt, dem Laien verschweigen zu müssen! Wie wollt ihr V e r t r a u e n haben, wenn ihr bei den letzten Fragen ausweicht? Jetzt ist es noch Zeit. Bald ist es zu spät. Wenn ihr aber schweigt, dann reden die Schwätzer."
      [Hermann Gunkel, Ein Notschrei aus Anlaß des Buches: Himmelsbild und Weltanschauung im Wandel der Zeiten. Von Troels-Lund, Leipzig, Teubner 1899, in: ChW 14 (1900), Sp. 58-61, hier Sp. 60; Hervorhebungen im Original. Vgl. zum Folgenden bes.: Nittert Janssen, Popularisierung der theologischen Forschung. Breitenwirkung durch Vorträge und "gemeinverständliche" Veröffentlichungen, in: Lüdemann/Schröder, S. 109-136.]

Ein Vortrag Gunkels vor dem "Wissenschaftlichen Predigerverein zu Hannover" wurde später (1903) zur Grundlage für Gunkels programmatisches Buch "Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des neuen Testaments", das als Nr. 1 eine neue Publikationsreihe "Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments" (= FRLANT) im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen begründete, die bis heute existiert. Als Mitherausgeber neben Hermann Gunkel fungierte dessen Freund Wilhelm Bousset [Nr. 2 der Reihe stammte von Wilhelm Heitmüller, Nr. 3 von Johannes Weiß. Auch andere Religionsgeschichtler beteiligten sich an diesem Unternehmen].

Während diese Reihe noch recht fachspezifisch orientiert war, zielten die wenig später (1904) gegründeten "Religionsgeschichtlichen Volksbücher" mit ihrem billigen Preis und geringem Umfang auf die breite Masse des Volkes ab; sie wollten wahre "Volksbildung" leisten. Diese Reihe ging aus der Vortragstätigkeit des "begabten Redners" [so Anthonie Frans Verheule, Wilhelm Bousset. Leben und Werk. Ein theologiegeschichtlicher Versuch, Amsterdam 1973, S. 30. Hier wird auch der Grund für die Vortragstätigkeit Boussets genannt, indem aus den Protokollakten der Landessynode 1906, S. 455 zitiert wird: "Ich brauche hier ja nur einige Andeutungen zu machen, brauche nur hinzuweisen auf die Entfremdung der Arbeitermassen gegenüber Kirche und Religion, brauche nur hinzuweisen auf die Tatsache, daß gerade so viel Männer aus allen Kreisen der Kirche fernbleiben und dem Glauben fernstehen. ( ) Diese Not hat uns hinausgetrieben aus dem akademischen Berufe, dessen Stille wir wahrlich ungern verließen"] Boussets hervor und wurde zunächst vom Verlag Gebauer-Schwetschke in Halle, dessen Inhaber sein Bruder Hermann war, herausgebracht und 1906 von J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen übernommen.
Die endgültige Konzeption der Reihe und deren Herausgabe übernahm Friedrich Michael Schiele (1867-1913), Oberlehrer in Marburg. Das Ziel der "Volksbücher" beschrieb Schiele in einem Aufruf zur Mitarbeit 1904 folgendermaßen:

    "Sie wollen Religion, Christentum und Kirche historisch und kritisch verstehen lehren, aber nicht verteidigen. Das Verständnis, das sie vermitteln, suchen sie bei der strengsten Wissenschaft von der Geschichte der Religion. Sie werden deshalb (ohne es zu wollen) im Volke vieles zerstören, was heute zwar mit dem theologischen Anspruch auftritt, bewiesene Wahrheit zu sein, in Wirklichkeit aber den Forschungen der gelehrten Welt nicht standgehalten hat. Sie werden (ohne danach zu streben) im Volke das befestigen, was durch ehrliche Wissenschaft und ihr gegenüber sich als Wirklichkeit erwiesen hat. Die Absicht der Volksbücher ist lediglich die: auf offene Fragen - offen und bescheiden wissenschaftlich begründete Antworten zu geben."
      [Abgedruckt bei Nittert Janssen, Popularisierung der theologischen Forschung. Breitenwirkung durch Vorträge und "gemeinverständliche" Veröffentlichungen, in: Lüdemann/Schröder, S. 116.]

Boussets Volksbuch "Jesus" hat dieses Ziel sicherlich erreicht: bis 1913 wurden in drei Auflagen insgesamt 30.000 Exemplare gedruckt. Zu den späteren Mitarbeitern der "Volksbücher" gehörten u.a. fast alle Mitglieder der "Religionsgeschichtlichen Schule".

Einher mit der Massenverbreitung wissenschaftlich-theologischer Forschungsergebnisse ging der Gedanke, den Wortlaut der Bibel für die Gegenwart verständlich wiederzugeben und zu erklären. Auch dieser Gedanke entstammte der (Arbeits-)Gemeinschaft Boussets mit Heitmüller, deren Diskussionen um theologische und politische Themen des öfteren im Hause des Verlegers Gustav Ruprecht stattfanden. Heitmüller selbst wohnte hier über Jahre hinweg, Bousset - aber auch Otto und zuvor die übrigen Göttinger "Religionsgeschichtler" - verkehrten hier regelmäßig.
Dort erschienen ab 1904/05 "Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt", die sog. "Gegenwartsbibel" oder auch "Ketzerbibel". Diese wurde herausgegeben von Johannes Weiß, der eine entsprechende Offerte des Verlagshauses annahm. Doch geht ihr Plan auf Bousset und Heitmüller zurück, wie letzterer selbst betont:

    "Mit ihm [d.i. Bousset] entwarf ich auch den Plan der sog. 'Gegenwartsbibel' (Die Schriften des N.T., neu übersetzt u. für die Gegenwart erklärt), deren Redaktion auf meine Bitte Joh. Weiß übernahm, bis sie nach dessen Tode mit der 3. Aufl. zu uns u. nach Boussets Tode zu mir allein zurückgekehrt ist."
      [Lebenslauf Heitmüllers aus Bonn.]

Ihr Ziel war es, die Schriften des Neuen Testamens für die "breite Masse" verständlich zu übersetzen und zu kommentieren, eine christlich-religiöse "Volksaufklärung":

    "Mit dieser neuen Übersetzung und Erklärung des Neuen Testaments soll der Versuch gemacht werden, dem gebildeten und über die Probleme unsrer Religion nachdenkenden Leser ein lebendiges geschichtliches Verständnis der Urdokumente des Christentums zu erschließen. G e s c h i c h t l i c h ist diese Erklärung, weil sie dazu anleiten will, die Schriften und die Persönlichkeiten aus ihrer Zeit und Umgebung zu verstehen; l e b e n d i g soll sie sein, weil die Verfasser sich bemühen, das eigenartige kraftvolle religiöse Leben, das in diesen Büchern einen unübertroffenen Ausdruck gefunden hat, nachzuempfinden und ein Gefühl für seine Größe und Innerlichkeit in dem verständnisvollen Leser zu wecken. Bei ihrer Arbeit wissen die Mitarbeiter sich frei von jeder Rücksicht auf theologische Schulen und Parteien; wie sie bestrebt sind, das Neue Testament ganz ohne Voreingenommenheit auf sich wirken zu lassen, so wollen sie auch dem Leser nur die Sache selber zeigen, wie sie ist. Sie wollen ihm helfen, das Neue Testament mit eigenen Augen zu lesen, und nicht durch die Brille einer anerzogenen Gewöhnung. Die hier vorgetragene Auffassung ist nicht die herkömmliche, aber nur, weil die Bibel selber anders ist, als die dogmatischen Theorien über sie, mit denen wir aufgewachsen sind. Vieles, was dem Leser bisher selbstverständlich erschien, wird dabei allerdings zweifelhaft werden, manches, woran sein Herz hängt, wird fallen; aber dafür wird er sehr vieles gewinnen, was ihm unbekannt war; vor allem wird das Wesentliche und Ewige in diesen Schriften deutlich werden, nachdem wir das Zeitliche und Unwesentliche als solches erkannt haben."
      [Klappentext der 1. Lieferung (November 1904); vollständig abgedruckt bei Janssen, S. 127; Hervorhebung im Original.
      Wie sehr Bedarf für ein solches Unternehmen bestand, verrät eine Notiz von Bousset auf einer Postkarte an Wernle: "Von unserm neuen Kommentarwerk sind bereits
      vor der ersten Lieferung über 1000 Exemplare bestellt. Ein buchhändlerischer Erfolg ersten Ranges" (Postkarte von Wilhelm Bousset an Paul Wernle, Göttingen 20.11.1904, UB Göttingen, Nachlaß Bousset, Ms. Bousset 151; Hervorhebung im Original).]

Von den Mitgliedern der "Religionsgeschichtlichen Schule" beteiligten sich an diesem Unternehmen: Wilhelm Bousset, Hermann Gunkel, Wilhelm Heitmüller und Johannes Weiß, sowie der "Germane" und Bousset-Schüler Wilhelm Lueken. Bis 1928 wurden 27.000 Stück der "Gegenwartsbibel/Ketzerbibel" verkauft.

Die beiden Extraordinarii Wilhelm Bousset und Rudolf Otto, sowie der Privatdozent Wilhelm Heitmüller, bildeten über viele Jahre hinweg den Göttinger Zweig der "Religionsgeschichtlichen Schule". 1908 wurde Heitmüller als Nachfolger von Johannes Weiß nach Marburg berufen. Auch Bousset und Otto verließen schließlich Göttingen: Otto ging 1915 nach Breslau, Bousset 1916 nach Gießen.

Alf Özen, 1996