Die "Religionsgeschichtliche Schule"


















Kurzeinführung
Der rel.gesch. Ansatz
Die Keimzelle
Die theol. Väter
Der ak.-theol. Verein
Die kleine Fakultät
Das theol. Stift
Die Germania
Rel.gesch. Kreise
Die Bildung der RGS
Absolutheit des Chr.
Popularisierung
Vier Prinzipien
Rezeption der RGS
Perspektiven der RGS

Die Burschenschaft "Germania" in Göttingen

(=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS 1)

Seit dem Beginn der 90er Jahre entstand ein weiterer außeruniversitärer Ort, der für die Entwicklung der angehenden "Religionsgeschichtler", aber auch für jüngere Theologiestudenten, wichtige Impulse gab: die Burschenschaft "Germania" unter der Führung von Wilhelm Bousset.

Die seit 1851 bestehende nicht-schlagende Burschenschaft "Germania", der Studenten aller Fakultäten angehören konnten, hatte Ende der 80er Jahre kurz vor ihrer Auflösung gestanden. "Sie hatte seit dem S.[ommer]-S.[emester] 87 nie mehr als neun bis elf Aktive, meistens nur sechs bis acht, einmal nur drei [...]"[Hermann Schuster, Geschichte der Burschenschaft Germania in Göttingen, 3. Teil, Bremen 1956, S. 13].
Die "Germania" war eine "christliche" Verbindung. Doch "[...] nie ist in der Geschichte der Verbindung Gewissenszwang geübt, nie sind dogmatische Schranken aufgerichtet, es ist [...] auf dem Boden der Freundschaft dem Gewissen des einzelnen überlassen worden, wie weit er sich in seinem ehrlichen Streben noch als Glied der Verbindung fühlt, auch wenn er mit David Strauß dahin käme, auszurufen: Wir sind keine Christen mehr!" [Johannes Scholz, Geschichte der Burschenschaft Germania in Göttingen. Zweiter Teil, Neustrelitz, 1931, S. 35.]
Die "Germania" wollte eine Hilfe bieten für die Suche ihrer jungen Mitglieder nach eigenen theologischen oder auch religiösen Positionen. "Davon gingen die Stifter aus, indem sie Schwankungen (Rückfälle und Rückkehr) anerkannten, nicht fertige, sondern werdende Christen annahmen, für deren aufrichtiges Streben die Germania eine Gemeinschaft der Förderung und des Beharrens auf dem Wege sein solle, auch eine Stütze in Zeiten des Zweifels durch Freundschaft" [Scholz, a.a.O., S. 61].

Im Wintersemester 1886/87 kamen zwei Studenten nach Göttingen, die seit ihrer gemeinsamen Erlanger Zeit zwei Jahre zuvor eng befreundet waren: Wilhelm Bousset und Ernst Troeltsch. Beide waren in Erlangen in der "Uttenruthia", die dem Schwarzburgbund angehörte, aktiv gewesen. Obwohl sie in Göttingen des öfteren als Gäste die Abende der Germania besuchten - wie auch schon vorher Johannes Weiß -, so schlossen sie sich doch nicht ihr, sondern der "Schwarzburgbundgesellschaft" an, die eine Anlaufstation für die in Göttingen studierenden Mitglieder von zum Schwarzburgbund gehörenden Verbindungen bot. Bousset avancierte zum Führer dieses Kreises und war auch bei dessen Annäherung an die Germania 1892 beteiligt, als diese ihrerseits Anschluß an den Schwarzburgbund suchte, um eine Zwangsauflösung aufgrund der geschwundenen Mitgliederzahl zu verhindern.

Die Aufnahme der Verbindung in den Schwarzburgbund 1893 und die damit verbundene Öffnung für Kartellphilister bedeutete den Beginn eines neuen Aufschwungs für die Germania. Die Zahl der Mitglieder, Kartellbrüder und Hospitanden stieg zunächst sprunghaft auf 28 an. Zwei Jahre später waren es schon "45 Menschen, die sich regelmäßig mindestens des Mittags im Germanenhause trafen" [Schuster, a.a.O., S. 30 Anm. 1.].
Schon bald war Bousset zu einer führenden Persönlichkeit in der Germania geworden. "Er verwendete einen Teil seiner ohnehin geringen Einkünfte als Privatdozent und als Extraordinarius darauf, zum Kauf eines Verbindungshauses beizutragen und die bis dahin darniederliegende Bibliothek auszubauen bzw. die studentischen Mitglieder [...] bei deren Ausbau zu beraten" [Hans-Joachim Dahms, Das Göttinger Theologische Stift 1878-1900, in: Lüdemann/Schröder, S. 45-51, hier S. 42]. Es wurde ihm nachgesagt, "auf das gesamte Denken junger Menschen einzuwirken und es in vielen Fällen zu revolutionieren" [Schuster , S. 41.].

Doch was war dieses "Revolutionierende" an Boussets theologischen Erkenntnissen? Der Untertitel seiner 1892 erschienenen Schrift "Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum" deutet es bereits an: "Ein religionsgeschichtlicher Vergleich". Mit diesem Werk wollte er in der Jesusforschung einen neuen Weg bahnen, der "in der Forderung einer konsequent [...] angewandten Heranziehung der religiösen Gedanken und Stimmungs-Welt des Spätjudentums zum Verständnis der geschichtlichen Erscheinung Jesu [besteht]. Es wird die Aufgabe gestellt, die Persönlichkeit Jesu [...] von dem Boden aus zu begreifen, auf dem sie erwachsen ist, vom Boden des Spätjudentums" [Wilhelm Bousset, Die Predigt Jesu in ihrem Gegensatz zum Judentum, Göttingen 1892, S. 6]. Dazu durften aber Bibel und Christentum nicht losgelöst von profangeschichtlichen Entwicklungen gesehen, sondern mußten als in einen universalen geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang gehörig erkannt werden. Konsequent untersuchte er die Umwelt des Urchristentums auf wechselseitige Abhängigkeiten voneinander. Jüdische, babylonische, persische und hellenistische Einflüsse auf das entstehende Christentum konnten Bousset und seine "religionsgeschichtlichen" Freunde dabei nachweisen.

Noch deutlicher geht Boussets Forschungsansatz aus einem Brief an seinen Freund Paul Wernle hervor:

    "Auf der einen Seite gewinne ich durch das Studium der semitischen Religionen einen immer tieferen Einblick, wie tief thatsächlich die Religion des alten u. neuen Testaments mit der allgemeinen Religionsgeschichte verwachsen ist. Es ist wie unentwirrbares Wurzelgefaser. Klarer und klarer wird mir, daß vor allem das Judentum kein legitimes Erzeugnis der altisraelischen Religion ist, sondern hier d. verschiedensten Ströme zusammengeflossen sind. Schon Eine [sic!] Vergleichung der alttestamentlichen mit den babylonisch-assyrischen Bußpsalmen ist im höchsten Grade lehrreich. Die alttestamentliche Bußstimmung schon lange vorher vorhanden in einer polytheistischen Religion, bis in Einzelheiten ausgebildet! auch [sic!] hier d. Bitte um die Vergebung verborgener Sünden, auch hier das 'Ich'-Problem etc. Doch wieder welch ein Abstand hier u. dort, welch ein eigenartiges Weiterbilden. - Und so gehts weiter. Die Idee von den beiden einander-folgenden Welten, die Hoffnung der Totenauferst[eh]ung und zwar - was das bedeutsame ist im Zeitalter -, der endgültige Kampf Gottes mit dem Teufel, dem Herrscher dieser Welt, vorgebildet in der iranischen Religion! Die ganze religiöse Sprache des Spätjudentums mit den bizarren grotesken Bildern nicht erwachsen auf dem Boden des alten Testaments! Dazu kommen unleugbar bedeutende Einflüsse aus der griechischen Welt, wenn sie sich auch schwer genauer bestimmen lassen. Resultat: ein wahrer Hexenkessel: das Judentum, tausendfache Ansätze [...], alles durcheinander wirbelnd siedend gährend. Und dann gleichsam eine metabasis eis allo genos: Das Evangelium. - Die Geschichte war in der That noch viel größer und gewaltiger als sie sich in den Augen der meisten Theologen, die auch noch viel zu wenig Faktoren rechnen, ausnimmt"
      [Brief von Wilhelm Bousset an Paul Wernle, Lübeck 29.12.1897 (UB Göttingen, Nachlaß Bousset, Ms. Bousset 151).]

Boussets Engagement in der Germania beeinflußte dort neben angehenden Wissenschaftlern auch künftige Pastoren und Religionslehrer. Als bekannteste von ihnen seinen hier genannt: Wilhelm Lueken, der später an dem von Johannes Weiß herausgegebenen "Göttinger Bibelwerk", einer Kommentarreihe zum Neuen Testament, mitarbeitete, Hermann Schuster, der spätere Abgeordnete im Preußischen Landtag und Honorarprofessor in Göttingen [Ab 1906 war Schuster Herausgeber der "Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht, von 1910 bis zur Annahme seines Landtagsmandats 1921 auch Mitherausgeber der "Theologischen Literaturzeitung"], der Neutestamentler Wilhelm Heitmüller und der einige Semester in Göttingen studierende Schweizer Paul Wernle [Von Bousset für das "Spätjudentum" interessiert, hatte es Wernle besonders das apokalyptische Buch Henoch angetan, wodurch er seinen Spitznamen "Henoch" erhielt (so Schuster, S. 49). 1897 habilitierte er sich in Basel, wurde dort 1899 Ordinarius für Neues Testament und 1901 für Kirchengeschichte.]

Doch Boussets radikal historischer Forschungsansatz, der oft genug zum Bruch mit überkommenen religiösen Vorstellungen führte, fand nicht nur Beifall bei seinen Germanenschülern. So erinnerte sich Karl Woebcken später:

    "Kaum aktiv geworden, nahm mich Wilhelm [d.i. Lueken] mit auf den Bummel zum Rohns hinauf und erzählte mir unterwegs, Strauß Leben Jesu sei recht zahm, jetzt ginge man viel weiter. Mir blieb die Spucke weg. Die um Bousset erschienen mir wie eine Horde von Bilderstürmern, die alles kurz und klein schlagen wollten. Lieber hörte ich bei Tschackert, von dem jene nur mit der größten Verachtung redeten, Kirchengeschichte und Symbolik und glaubte etwas von dem Geiste des Matthias Claudius zu spüren. Der Mann wollte nicht klüger sein als die Bibel. Gewiß, die Elite hielt zu Bousset und Naumann, es gab aber auch eine Gegenströmung. Petri erklärte ohne Begründung, er sei konservativ. Ackerschulz sagte unumwunden, das, was die um Bousset an Politik und Religion verzapften, sei ihm zu hoch. [...] Mops soll einmal geheult haben, als er einen Abend bei Bousset zugebracht hatte. [...] Wie man in Darwins Schöpfung den Schöpfer vermißt, so vermißte ich in Boussets Bibel den Heiligen Geist. Es war ja alles Menschenwerk, noch dazu eins, wo es nach Fälschungen stank. Ich konnte mich gewaltig darüber aufregen, daß der erste Petrusbrief nicht von dem Apostel geschrieben sein sollte."
      [Brief von Karl Woebcken an Emil Lueken, Stillenstede 24.5.1956 (dem Archiv "Religionsgeschichtliche Schule" zur Verfügung gestellt von Otto Borcherding, Ludwigsburg).]

Solchermaßen in zwei Lager gespalten, kam es innerhalb der Germania 1896 zum offenen Bruch. Bousset resümierte:

    "Es war allerdings eine gründliche Täuschung, als ich im Anfang des Semesters glaubte, daß alle Kämpfe zu Ende seien. Ich hatte gehofft, daß es gelingen würde durch ein energisches Regiment die schlaffen und flauen Seelen mit fortzureißen. Aber die haben, als alle Aussicht auf Einfluß in der Verbindung verloren gegangen war, es vorgezogen zu streiken und sind davon gegangen. [...] - Überhaupt sehe ich die Dinge viel ruhiger an, seitdem ich einsah, daß man es im Durchschnitt eigentlich nur mit recht großen Kindern zu thun gehabt, die selbst nicht wissen, was sie eigentlich wollen, sich der Tragweite ihrer Handlungen gar nicht bewußt sind und denen man nicht allzu böse sein darf. [...] Es wird aller Voraussicht nach sehr ruhig, sehr friedlich und sehr brav und sehr langweilig weitergehen. [...] Es wird eben eine brave Mittelmäßigkeit herrschen, ohne höheren Gedanken und Schwung, eine Verbindung und Zeit, die nicht die alte mehr ist [...]. Vielleicht daß in der jüngsten Generation der glimmende Funken wieder aufglüht."
      [Brief von Wilhelm Bousset an Paul Wernle, Lübeck 14.9.1896 (UB Göttingen, Nachlaß Bousset, Ms. Bousset 151).]

Alf Özen, 1996