Die "Religionsgeschichtliche Schule"


















Kurzeinführung
Der rel.gesch. Ansatz
Die Keimzelle
Die theol. Väter
Der ak.-theol. Verein
Die kleine Fakultät
Das theol. Stift
Die Germania
Rel.gesch. Kreise
Die Bildung der RGS
Absolutheit des Chr.
Popularisierung
Vier Prinzipien
Rezeption der RGS
Perspektiven der RGS

Das theologische Stift in Göttingen und die "Religionsgeschichtliche Schule" (1882-1900)

    "Von besonderem Werte können aber auch die Konvikte werden, die jetzt an einer größeren Zahl unserer Universitäten teils vom Staate selbst errichtet sind, teils aus privaten Stiftungen hervorgegangen sind, aber auch in letzterem Falle meist in bestimmte engere oder weitere Beziehungen zu unsern Fakultäten gestellt sind. Das größte, älteste und eigenartigste dieser Konvikte ist das Tübinger Stift, das für die ganze Studienzeit seine Mitglieder aufnimmt und unter dem Inspektorate mehrerer Professoren, von denen einer die Stelle des Ephorus bekleidet, und der Tätigkeit von Repetenten den Studiengang vom Anfang bis zum Abschluß des Studiums überwacht, leitet und durch die verschiedensten Übungen im Stifte selbst wirksam unterstützt. Die andern Konvikte gewähren meist nur für eine beschränkte Zahl von Semestern den Studierenden Aufnahme und einen Teil ihrer Beköstigung. Ein jüngerer tüchtiger Theologe, nicht immer zugleich Dozent, verwaltet das Amt eines Inspektors des Konviktes mit der Verpflichtung, bestimmte, meist exegetische Übungen mit den Konviktualen zu halten. Dazu kommt der persönliche Verkehr des Inspektors mit letzteren und ihr eigener Verkehr unter einander als die tägliche Gelegenheit zu mannigfacher Förderung inbezug auf die Studien und alles, was an Fragen das Herz bewegt."
      [D.G. Kawerau: "Evangelisch-theologische Fakultät", in: W. Lexis (Hrsg.): Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich, 1. Band: Die Universitäten im Deutschen Reich, Berlin 1904, S. 71, hier S. 70 (ausführlich abgedruckt in Lüdemann/Schröder, S. 45).]

Seine endgültige Gestalt bekam das Göttinger Theologische Stift durch ein ministerielles Reglement vom 8. Juni 1878. Jeweils 16 (vorher 12) Studenten erhielten für ein Jahr im Stift eine Freiwohnung und, je nach Bedürftigkeit, eine zusätzliche Semesterunterstützung von 33 Mark. Den Gesuchen der Studenten um Aufnahme in das Stift war ein Bedürftigkeitsnachweis beizufügen. Zum mindesten William Wrede und Wilhelm Bornemann wohnten hier als Studenten in ihrer Göttinger Zeit im Jahr 188O/81. Nach dem Reglement von 1878 trat an die Spitze des Stifts statt der bisherigen drei Repetenten ein Inspektor für jeweils zwei Jahre mit der Möglichkeit einer halbjährigen Verlängerung. Der Inspektor erhielt freie Wohnung im Stift und eine "Jahresremuneration" von 1200 Mark. Die begehrte Stellung, die dem Anwärter zwei Jahre relativ ungestörten, finaniziell gesicherten Arbeitens und Lebens ermöglichte, war rasch in der Hand der jungen "Religionsgeschichtler" und blieb es - mit einer Ausnahme - für die nächsten knapp 20 Jahre.


Die Stiftsinspektoren und ihre Amtszeit im einzelnen:

Die Information über die bevorstehende Vakanz der Stelle ging im Freundeskreis von Mund zu Mund; Heitmüller sprach dies in seiner Bewerbung ganz offen an.
Das Inspektorat bot ihnen die einmalige Gelegenheit, dem Kirchendienst für eine Weile auszuweichen und stattdessen den Grundstein für ihre akademische Laufbahn zu legen. Der Stiftsinspektor durfte sich als solcher zwar nicht habilitieren, doch diente die Zeit der Vorbereitung der Habilitation, die alle Genannten kurz nach dem Inspektorat abschließen konnten. Und zu einer erfolgversprechenden Bewerbung gehörte übrigens auch der Nachweis einer ausreichenden wissenschaftlichen Qualifikation des Kandidaten. So heißt es im Reglement von 1878:

    "Der Vorzuschlagende muß mindestens schon ein Jahr die Universitätsstudien beendet haben und nach seinem Charakter wie nach seinen Anlagen und Kenntnissen der Fakultät bekannt sein. Liegen der theologischen Fakultät über die ausreichende Befähigung desselben überzeugende Beweise vor, so kann sie von der Vornahme einer besonderen Prüfung Abstand nehmen. Andernfalls ist von dem Bewerber eine theologische Abhandlung einzureichen, und wenn diese genügend befunden wird, eine Predigt in der Universitätskirche zu halten."
      [Reglement für das Theologische Stift bei der Königl. Universität zu Göttingen. Berlin, den 8. Juni 1878, Paragr. 6. Der Minister der geistl., Unterrichts- u. Medicinal-Angelegenheiten. Falk. Theol. Fak. Nr. 128a:I. Universitätsarchiv Göttingen.]

Heinrich Hackmann mußte eine solche Abhandlung nachliefern; Alfred Rahlfs konnte als Inspektor schon einen Dr. phil. vorweisen, und für Wilhelm Bornemann, William Wrede, Heinrich Hackmann und Wilhelm Heitmüller scheint deren vormaliger Aufenthalt im Predigerseminar Loccum bei der Bewerbung hilfreich gewesen zu sein.

Problematisch im Verhältnis zu den Stiftsinsassen und vor allem zu der Fakultät war die Aufgabe der Inspektoren, sogenannte "Stiftsabende" abzuhalten. Hierzu heißt es im Reglement von 1878:

    "Er [d.i. der Inspektor] hat außerdem die wissenschaftlichen Studien der sämmtlichen Mitglieder des Stifts durch Repetirübungen über deren Umfang und Themata der Dekan der theologischen Fakultät im Einvernehmen mit der letzteren nähere Bestimmungen trifft, zu beleben und zu unterstützen [...]."
      [Reglement, a.a.O., Paragr. 3.]

Nicht nur fürchteten die Professoren, daß ihnen ein Vorlesungen haltender Inspektor Hörer abspenstig machen könnte, sondern sie wünschten offenbar auch keine Konkurrenz durch die Themata der Stiftsübungen. Ein Gesuch von Alfred Rahlfs an die Fakultät, im Wintersemester 1889/90 eine Stiftsübung über den Brief des Paulus an die Galater abhalten zu dürfen, wurde mit der Bemerkung abgelehnt, es sei ein Buch vorzuziehen, das nicht Gegenstand einer Vorlesung sei [Gesuch vom 21.10.1889. Theol. Fak. Nr. 128:II. Universitätsarchiv Göttingen. Rahlfs nahm stattdessen die Apostelgeschichte durch].

Hans-Joachim Dahms, 1987