Die "Religionsgeschichtliche Schule"


















Kurzeinführung
Der rel.gesch. Ansatz
Die Keimzelle
Die theol. Väter
Der ak.-theol. Verein
Die kleine Fakultät
Das theol. Stift
Die Germania
Rel.gesch. Kreise
Die Bildung der RGS
Absolutheit des Chr.
Popularisierung
Vier Prinzipien
Rezeption der RGS
Perspektiven der RGS

Vier Prinzipien der Arbeitsweise der "Religionsgeschichtlichen Schule" und ihre "theologische" Zähmung

(=> Auszug aus: "Die 'Religionsgeschichtliche Schule" und die Neutestamentliche Wissenschaft, STRS 1)

Die exegetischen Prinzipien der einzelnen Mitglieder der "Religionsgeschichtlichen Schule" sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Doch vielleicht können sie, wenn man im Rückblick ihre zahlreichen Arbeiten mustert, in viererlei Hinsicht aufgeschlüsselt werden, wobei sich die einzelnen Aspekte überschneiden.

Der erste sei radikal-historisch genannt. "Religionsgeschichtlich" heißt dann: radikal historische Erforschung der eigenen Religion. Man vergleiche etwa die von Hugo Greßmann für Albert Eichhorn überlieferte Frage, ob denn Jesus nun wirklich auferstanden sei [Hugo Greßmann, Albert Eichhorn und Die Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1914, S. 5]. Der darin zum Ausdruck kommende radikale historische Ansatz spiegelt sich z.B. in William Wredes Buch "Das Messiasgeheimnis in den Evangelien" (Göttingen 1901) wider, dessen Ausgangspunkt die Frage ist, "ob Jesus sich für den Messias gehalten und ausgegeben hat" (S. V), und das den Widerspruch im Markusevangelium zwischen den wiederholten Schweigegeboten sowie der oftmaligen Erkenntnis Jesu als dem Messias durch die Dämonischen und die Jünger mit der Hypothese erklärt: Das Messiasgeheimnis sei dogmatischer Ausgleich des Messiasglaubens der frühesten Gemeinde mit einem unmessianischen Leben Jesu. Den eventuellen Einspruch zeitgenössischer Kritiker gegen diese These weist Wrede im voraus mit den Worten ab: "Wir können die Evangelien nicht anders machen; wir müssen sie nehmen, wie sie sind. Mag man darum meine Kritik radikal nennen, so habe ich nichts dagegen. Ich halte mich daran, dass die Dinge selbst manchmal am radikalsten sind und dass es dann kaum ein Vorwurf ist, sie hinzustellen, wie sie sind" (S. VI).

In ähnlicher Weise wie bei Wrede schlägt sich dieser historische Neuansatz in Johannes Weiß' These nieder, Jesu Verkündigung sei vornehmlich zukunftsorientiert gewesen, denn ihr Gegenstand, die Gottesherrschaft, bezeichne das unmittelbar bevorstehende, durch einen übernatürlichen Eingriff anbrechende Gottesreich und habe nichts mit einer innerweltlichen Kulturentwicklung gemein, wie die liberale Schulexegese im Anschluß an Albrecht Ritschl meinte [Johannes Weiß, Die Predigt Jesu vom Reich Gottes, Göttingen 1892].

Damit komme ich zum zweiten Aspekt der exegetischen Prinzipien der RGS: "Religionsgeschichtlich" heißt religionsvergleichend, denn die radikale historische Kritik der RGS führte notwendigerweise zu der gleichzeitigen Bearbeitung verwandter religiöser Phänomene im Umfeld des frühen Christentums. Dieser Arbeitsschritt der RGS gipfelte in dem herausfordernden Satz Hermann Gunkels, das Christentum sei eine synkretistische Religion [Hermann Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Problem des Neuen Testaments, FRLANT 1, Göttingen 1903]. Gunkel wies mannigfache Entsprechungen "christlicher" Ideen zu solchen in orientalischen Religionen auf. So seien die beiden christlichen Zentralvorstellungen von Auferstehung und Christologie bereits - durch orientalische Religionen vermittelt - im Judentum vorhanden gewesen, und Wilhelm Bousset arbeitete einen gnostischen Urmenschmythos heraus, welcher der neutestamentlichen Christologie zugrunde liege. Wilhelm Heitmüller vertiefte Wredes Entdeckung der heidenchristlichen Gemeinde(n) u.a. durch seinen Aufweis von Taufe und Abendmahl als sakramentale Handlungen, die in keinem genetischen Verhältnis zur palästinischen Kirche bzw. zu Jesus ständen. So finde das "sakramentale Essen und Trinken des Leibes und Blutes Christi" seine Erklärung aus dem Studium ähnlicher Phänomene der allgemeinen Religionsgeschichte (z.B. den kannibalischen Opfern der Azteken oder dem Verzehr rohen Fleisches bei den Nomaden des Sinais im Bericht des Nilus) [Wilhelm Heitmüller, Taufe und Abendmahl bei Paulus, Göttingen 1903, S. 40-42.49].

Die radikal historische Kritik hatte in Verbindung mit dem Religionsvergleich drittens ein soziologisches Element zur Konsequenz, z.B. die Identifizierung der Volksfrömmigkeit sowie des Kultus als Erzeuger von religiösen Überlieferungen. So erkannte Bousset apokalyptische Stoffe als Gebilde der Volksfrömmigkeit (Beispiel: die Überlieferung vom Antichristen) und rechnete damit, daß der Stoff über Jahrhunderte tradiert wurde, während Gunkel in seiner genannten Schrift (Anm. 4) die Geschichte von Stoffen wie der Höllenfahrt, der Auferstehung des Christus und des Buches mit den sieben Siegeln sowie ihre Übernahme ins Urchristentum beschrieb. Solche Überlegungen zur Geschichte des Urchristentums führten dazu, vor der Darstellung der Religion und Theologie des Paulus den Kult der hellenistischen Gemeinde zu rekonstruieren, weil der Apostel von dieser im Christentum unterwiesen worden sei. Gegenüber der vorangehenden quellenkritischen Forschung Julius Wellhausens u.a. wurden Bericht und Ereignis nicht mehr gleichgesetzt, sondern radikale Unterscheidungen zwischen literarischer Form und historischem Ereignis eingeführt. Im Gefolge der Entdeckung der Tiefendimension von Geschichte betrachtete man diese nicht mehr nur als Kette von Ereignissen und Taten, die aufgrund von Quellenzeugnissen beschreibbar sind, sondern als eine Konstellation von Zuständen, Sitten und Bräuchen, Normen und Institutionen. Die von der RGS inaugurierte Formgeschichte besaß also ein soziologisches Element. Man kann hier förmlich von einem Paradigmenwechsel gegenüber der literarischen Schule des älteren Historismus sprechen, da nun individuelle Strukturen und soziologische Bedingtheiten miteinander verknüpft wurden.

Damit bin ich bei einem vierten (und letzten) Aspekt der Prinzipien der exegetischen Arbeit der RGS angelangt: der Entdeckung des urchristlichen Glaubens als psychologisch zu verstehender Religion, d.h. konkret der Abwendung von aller Theorie zum Primat der Erfahrung.

Das sei an der Göttinger Lizentiatenarbeit von Hermann Gunkel erläutert. Sie trägt den Titel "Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach den populären Anschauungen der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus" (Göttingen 1888). Nach Gunkel haben wir es in der Urgemeinde gar nicht mit einer Lehre vom Heiligen Geist zu tun, sondern hauptsächlich mit "eine(r) Fülle von Schilderungen seiner Wirkungen" (S. 4). Geist bezeichnet dabei ein Primärphänomen, zu dem im Urchristentum - neben Glossalalie, Ekstase, Heilungen - überhaupt alles unerklärlich Gewaltige zu rechnen sei. Eine solche Anschauung von Geist und seinen Wirkungen sei nicht spezifisch urchristlich, "sie durchzieht das ganze A.T., ist dem Judentum der späteren Zeit niemals ganz fremd geworden und konnte auch auf das Verständnis der Griechen rechnen. Wir haben daher das Recht, dieselbe die populäre Anschauung des N.T.lichen Zeitalters zu nennen" (S. 34).

Gunkel meinte, damit die Religion des Urchristentums wiederentdeckt zu haben, die aller Theologie vorgelagert sei. Er identifizierte die Religion als historisch-psychologisches Phänomen, als unmittelbare Erfahrung eines fremden Wesens, einer Macht, die nicht das Ich ist (21890, S. VII), von dem die Lehre oder die Spekulation vom Geiste zu unterscheiden sei, und er ruft seine Leser dazu auf, "den Propheten des alten und den Pneumatikern des neuen Testaments zu glauben, dass es sich hier um wirkliche psychologische Vorgänge handelt" (ebd.).

Andererseits arbeitet Gunkel mit einem zweiten Religionsbegriff und identifiziert Religion mit Sittlichkeit, wie sie in der Bergpredigt und bei Paul Gerhard deutlich wird. Denn Geist und Religion seien nicht identisch; in den großen Grundgedanken der Bergpredigt hörten wir vom Geiste nichts, und Paul Gerhard sei kein Pneumatiker gewesen (vgl. 21890, S. XI). Ja, der unendlich imponierende Eindruck des historischen Jesus habe bewirkt, daß das Christentum seinen historischen Charakter nicht eingebüßt hat - er habe mit einem Wort das Überleben des Christentums erst ermöglicht.

Doch sind diese Bemerkungen nicht zentral in Gunkels Arbeit. Sie sind eher beschwichtigend gemeint und dienen zur Abwehr des Eindrucks, die frühchristliche Kirche sei eine Schar von mehr oder minder Inspirierten gewesen, als stellte eine exaltierte, halbgestörte Erregtheit eines ihrer Hauptkennzeichen dar.

Wilhelm Bousset [Wilhelm Bousset, Besprechung von H. Weinel, Die Wirkungen des Geistes und der Geister im nachapostolischen Zeitalter bis auf Irenäus, 1899, in: GGA 1901, S. 753-776] schrieb im Einklang mit Gunkel dazu: Es "sind [...], wenn man das Christentum mit der umgebenden Welt vergleicht, [...] jene ekstatischen Wirkungen des 'Geistes' keineswegs etwas dem Christentum eigentümliches [sic!], oder auch in ihm besonders stark hervortretendes [sic!]. Vielmehr bewegt sich die ganze absterbende Frömmigkeit des Hellenentums bis zu ihrer letzten Konzentration im Neuplatonismus in eben dieser Richtung. Wunder und Orakel, Heilungen, ein atavistischer Geister- und Gespensterglaube, Visionen, Ekstase, wilde Verzückungen, - das sind die Charakteristika der dekadenten Religion des Hellenentums. Hier, und wir fügen hinzu, in der Schätzung des Sakramentalen in der Religion liegt gerade das verbindende Band zwischen der Frömmigkeit des Christentums und der es umgebenden Welt des römischen Kaisertums" (S. 763f.). An anderer Stelle führt Bousset aus: "die in Betracht kommenden religiösen Aeußerungen sind doch hüben wie drüben Krankheitserscheinungen und Verzerrungen, im besten Falle Außendinge und Hüllen echten religiösen Lebens. - Es sind hier wie dort gleichsam Fiebererscheinungen der Religion" (S. 765).

Ähnlich äußert sich Adolf Harnack [Adolf Harnack, Rezension von Weinel, Wirkungen (wie Anm. 6), in: ThLZ 24 (1899), Sp. 513-515]: Er meint, daß Gunkels Büchlein über den Geist "in der Geschichte der Theologie unvergessen bleiben wird" (Sp. 515), äußert aber sofort sein Unbehagen gegen derartige Forschungen. Wenn er selbst sich mit den von Gunkel und Weinel angeschnittenen Fragen näher beschäftige, so verursache das ihm "gradezu ein körperliches Mißbehagen" (ebd.). Ihm ist der Logos in der Geschichte des Christentums stärker als der Mythos oder die Sakramente, und "die Geschichte der Theologie und des sittlichen Lebens bleiben als Geschichte der Glaubenserkenntnis und der christlichen Lebensgestaltung doch die vornehmsten Stücke der Kirchengeschichte" (Sp. 515).

Überschaut man die bisher herausgearbeiteten vier Prinzipien der Exegese der RGS, so schält sich in ihnen eine Autonomisierung des historischen Bewußtseins heraus. Doch gleichzeitig gilt: Nicht nur das vierte - alle Prinzipien werden in ihrer Schlagkraft durch ein eigentümliches Jesusverständnis und - damit zusammenhängend - einer von den historischen Ergebnissen seltsam abgehobenen Hermeneutik gezähmt. Die apokalyptischen, sakramentalen, mysterienhaften - kurz: synkretistischen - Elemente des frühen Christentums, für die man den Nachweis ihrer Verbreitung in anderen Religionen und ihrer Verwurzelung in der Gemeinde bzw. ihrem Kult geführt hatte, waren, hermeneutisch gesehen, nur die Schale, die vom Kern zu trennen sei. Letzterer sei vor allem in der ethischen Verkündigung Jesu zu finden. Diese war für die RGS Mitte der Frömmigkeit und Zielpunkt ihrer Verkündigung. Nicht nur wurde Jesus vom zum Teil abwertenden Synkretismus-Urteil ausgenommen, er war auch gegenüber allen andern Persönlichkeiten erhaben.

Die Entdeckung der Gemeinde und des Kultes als Ursprungsort und Sitz im Leben weiter Teile der frühchristlichen Literatur und das Jesusverständnis der RGS klaffen seltsam auseinander. Z.B. steht die Entdeckung der Gemeinde als Mutterboden vieler frühchristlicher Äußerungen in einem merkwürdigen Widerspruch zur Hochschätzung von Persönlichkeiten, besonders der Persönlichkeit und Verkündigung Jesu. Jede neue Richtung, die an die RGS anknüpfen wollte, hatte diesen Widerspruch zu verarbeiten.

Gerd Lüdemann, 1996