Die "Religionsgeschichtliche Schule"


















Kurzeinführung
Der rel.gesch. Ansatz
Die Keimzelle
Die theol. Väter
Der ak.-theol. Verein
Die kleine Fakultät
Das theol. Stift
Die Germania
Rel.gesch. Kreise
Die Bildung der RGS
Absolutheit des Chr.
Popularisierung
Vier Prinzipien
Rezeption der RGS
Perspektiven der RGS

Gegenwärtige Perspektiven der "Religionsgeschichtlichen Schule"

(=> Auszug aus: "Die 'Religionsgeschichtliche Schule" und die Neutestamentliche Wissenschaft, STRS 1)

Einer sich neu orientierenden neutestamentlichen Wissenschaft bleibt nichts anderes übrig, als das liberale bzw. religionsgeschichtliche Erbe zu vertiefen und entschlossen das Defizit an Geschichtsbewußtsein zu beseitigen - dies, obwohl ihr eine sich ausschließlich theologisch gebärdende, den Kontakt mit der Geschichte verlierende Exegese und eine sukzessiv abnehmende Qualität der Vorbildung in klassischen Sprachen sowie der humanistischen Bildung entgegenstehen. Doch liegt in diesen Defiziten auch eine große Chance, weil so die Fremdheit der durch die Schulexegese bis zur Unkenntlichkeit entstellten antiken Geschichte neu entdeckt werden kann.

Daraus ergibt sich als erste Forderung für die Ausbildung, daß sowohl Lehrende als auch Studierende die Umwelt des Urchristentums als festen Bestandteil ihres Forschungs- und Lernprogramms begreifen. Diese Umwelt darf nicht länger nur als Hintergrund für das frühe Christentum angesehen werden, weil dadurch fälschlicherweise eine Nicht-Zugehörigkeit der Christen zu ihr suggeriert wird. Vielmehr müssen die Religionen der hellenistischen Zeit (einschließlich des Judentums) Gegenstand der neutestamentlichen Forschung werden, und die Neutestamentler(innen) sollten im idealen Fall eine ihrer akademischen Qualifikationsarbeiten (Promotion oder Habilitation) hauptsächlich über Religionen der hellenistischen Zeit bzw. über diese selbst geschrieben haben. (Es wäre dann nur billig, daß Philologen und Althistoriker Sitz und Stimme in den Prüfungskommissionen hätten.) Darüber hinaus sollten sie sich, wenn auch in bescheidenem Ausmaß, an der Erforschung der hellenistischen Literatur aktiv beteiligen. Den Studierenden sollte mindestens eine Vorlesung/Seminar über eine Religion der hellenistischen Zeit bzw. über diese selbst und eine Seminararbeit darüber zur Pflicht gemacht werden. Althistorische, altphilologische und neutestamentliche Lehrangebote wären also zu koordinieren.

Die Forderung nach Geschichtsbezogenheit der neutestamentlichen Forschung führt zweitens zu einer größeren Berücksichtigung der politischen, soziologischen und ökonomischen Fragestellungen in bezug auf das Neue Testament und seine Umwelt. Dadurch wird ihm erst der lebendige Geist der antiken Welt eingeflößt, und Geschichte erscheint dann nicht nur als schmaler Handlungsablauf bzw. als Ereignisfolge, sondern auch als geprägt durch die Gesellschaft, durch Normen und Institutionen. In diesem Zusammenhang erhält die Frage nach dem Sitz im Leben der urchristlichen Literatur ihren ursprünglichen soziologischen Ort zurück, den sie in der RGS hatte: Sie bedeutet nicht nur Sitz im gottesdienstlichen Leben, sondern umfassender auch den Sitz im kulturell-politischen Leben.

Aus der Forderung nach Geschichtsbezogenheit der neutestamentlichen Forschung folgt drittens eine entschlossene Zuwendung zum Erfahrungsaspekt urchristlichen Glaubens und - im Zusammenhang damit - die Einbeziehung religionspsychologischer Überlegungen. Sie sind die folgerichtige Fortsetzung und Vertiefung der als selbstverständlich erachteten historischen Bemühungen, setzen die historische Untersuchung im Leben des Einzelnen fort und verfolgen sie bis ins Quellgebiet des Unbewußten (Beispiele: Bekehrung des Paulus sowie Verleugnung und Vision des Petrus [Vgl. zum Beispiel Petrus/Paulus: Gerd Lüdemann, Psychologische Exegese oder: Die Bekehrung des Paulus und die Wende des Petrus in tiefenpsychologischer Perspektive, in: Friedrich Wilhelm Horn (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments. Symposium zum 65. Geburtstag von Georg Strecker, BZNW 75, Berlin/New York 1995, S. 91-111; ders., Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie, Stuttgart 21994; Gerd Lüdemann/Alf Özen, Was mit Jesus wirklich geschah. Die Auferstehung historisch betrachtet, Stuttgart 1995].

Aus der Forderung nach Geschichtsbezogenheit neutestamentlicher Forschung folgt viertens, daß an die Stelle einer Theologie des Neuen Testaments, die hauptsächlich mit den "Ideen" [Man vgl. dagegen bereits William Wrede, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, Göttingen 1897. Mich würde interessieren, ob Wrede Karl Marx gelesen hat, demzufolge Ideengeschichte "Gespenstergeschichte" ist. Vgl. dazu Kurt Rudolph, Edward Nordens Bedeutung für die frühchristliche Religionsgeschichte, unter besonderer Berücksichtigung der "Religionsgeschichtlichen Schule", in: B. Kytzler/ders./J. Rüpke (Hrsg.), Eduard Norden, Palingenenia 49, 1994, S. 83-105, hier S. 104] der neutestamentlichen Autoren befaßt war, eine Geschichte des Urchristentums treten muß, die die früheste Epoche ganz aus sich heraus nach den Gesetzen der historischen Wissenschaft darstellt. Diese Arbeit setzt die Unmöglichkeit besonderer christlicher Erkenntnismethoden voraus und hat sich ganz an ihrem Gegenstand, dem frühen Christentum, wie es in den erhaltenen Quellen deutlich wird, zu orientieren [Vgl. zum Folgenden: Gerd Lüdemann, Ketzer. Die andere Seite des frühen Christentums, Stuttgart 1995, S. 11-22].

Bezüglich der zeitlichen Abgrenzung der durch Jesus begründeten ersten Phase des Christentums ist zu bemerken: Sie liegt dort, wo der Konsolidierungsprozeß der frühchristlichen Gruppen abgeschlossen ist, Normen über richtig und falsch sowie der Kanon ausgebildet sind, mit der Entwicklung des monarchischen Episkopats auch eine gewisse Machtstellung der frühchristlichen Gemeinden gegenüber Gegnern ausgebildet ist und Sanktionen auch äußerlich durchsetzbar waren. Diese Abgrenzung läßt sich auch damit begründen, daß gegen Ende des 2. Jahrhunderts ein Versiegen der mündlichen, genetisch mit Jesus zusammenhängenden Traditionen zu konstatieren ist und sich wissenschaftliche christliche Theologie durch ständigen Rückbezug auf Jesus vergewissern muß. (Ein zu forderndes lebendiges Gedächtnis dieses Ursprungs ist freilich mehr als eine Wiederholung der Worte und Taten Jesu.) Das gilt selbst angesichts des Befundes, daß nicht geringe Teile der frühchristlichen Literatur ohne Rekurs auf den historischen Jesus auskommen, denn dieser bleibt - historisch gesehen - entscheidender Auslöser der christlichen Bewegung.

Diese erste Phase des frühen Christentums ist die Einheit, in der die Weichen dafür gestellt wurden, was als christlich gelten kann. In ihr schälte sich das Christentum als Erscheinung sui generis heraus. Insofern behält die Geschichte des Urchristentums eine herausragende Bedeutung gegenüber der nachfolgenden Kirchengeschichte. Diese erste Phase des Christentums ist rein historisch zu erforschen (fast könnte man sagen, sie ist zunächst unsere Bibel), denn das Schriftprinzip wurde durch die Auflösung des Inspirationsdogmas ein für allemal für die wissenschaftliche Theologie erledigt.

Dies gilt sowohl gegenüber der Kerygmatheologie, nach der Theologie im wesentlichen Schriftauslegung ist, als auch gegenüber manchen Spielarten der materialistischen Exegese, die naiv auf der Grundlage des Kanons theologische Urteile gewinnt. Das Kanonprinzip führt ja trotz aller Differenzierungsversuche (z.B. "Kanon im Kanon") praktisch dazu, den in ihm eingeschlossenen Schriften eine größere Dignität zu gewähren (man vergleiche die Anzahl der zu den einzelnen kanonischen Schriften verfaßten Kommentare im Vergleich zu denen über nichtkanonische Schriften) und Geschichte zu einer Geschichte der Sieger zu machen. Gustav Krüger behält hierin recht: "Die Existenz einer 'neutestamentlichen Wissenschaft' oder einer 'Wissenschaft vom Neuen Testament' als einer besonderen theologisch-geschichtlichen Disziplin ist ein Haupthindernis 1) einer fruchtbaren, zu gesicherten und allgemein anerkannten Ergebnissen führenden Erforschung des Urchristentums, also auch des Neuen Testaments selbst, und 2) eines gesunden theologisch-wissenschaftlichen Unterrichtsbetriebes" [Gustav Krüger, Das Dogma vom neuen Testament, Gießen 1896, S. 4].

So nützlich und wichtig es auch weiterhin ist, die Wirkungsgeschichte der Exegese der kanonischen Schriften nachzuzeichnen, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß es daneben und davor wichtige Gruppen gegeben hat, die aus historisch zu erklärenden Gründen von der erfolgreichen Partei verdrängt wurden. Sie wurden an einer dauernden geschichtlichen Entfaltung oft gewaltsam gehindert, haben aber sicher theologisch eine große Bedeutung [Vgl. die Illustrationen in Lüdemann, Ketzer].

Die Forderung nach einer zunächst rein historisch zu erstellenden Realgeschichte des Urchristentums ergibt sich schließlich aus zwei voneinander verschiedenen Gründen: a) aus der Existenz theologischer Fakultäten an der Universität, d.h. aus dem wissenschaftlichen Charakter der Theologie, b) aus Interesse an der Religion selbst. Die Punkte sind näher zu begründen.

Zu a: Soll theologische Wissenschaft sich nicht selbst aus der Universität verbannen und den Status eines Seminars zur Pastorenausbildung anstreben wollen, so ist die oben erhobene Forderung nur gerechtfertigt. Denn - so Gustav Krüger - wir "leiden mehr als wir wissen oder zugeben wollen, unter jener Schleiermacherschen Begriffsbestimmung, wonach der Wert jeder theologischen, also der theologisch-historischen Arbeit sich im letzten Grunde nach dem bestimmt, was sie der Kirche leistet. Ich sollte denken, die Beurteilung wissenschaftlicher Arbeit ertrage nur einen Maßstab, den, wie weit sie die Erkenntnis der Wirklichkeit fördert." [Krüger, Dogma, S. 39 Anm.; Hervorhebungen im Original]. Oskar Pfister konnte das überspitzt so ausdrücken: "eine Wissenschaft vom christlichen Glauben ist sowenig christlich, wie die Wissenschaft vom Verbrechen verbrecherisch ist. Nicht die kirchliche Brauchbarkeit, sondern lediglich die Wahrheit an sich muß das Ziel bilden [...] Wissenschaft mit von der Kirche bestellten Resultaten ist Scholastik." [Oskar Pfister, Die Aufgabe der Wissenschaft vom christlichen Glauben in der Gegenwart, Göttingen 1923, S. 13].

Zu b: Es kann nur im Interesse der christlichen Religion sein, wenn ihr durch die Kritik der Schleier genommen wird und sie in die Sphäre des antiken Lebens tritt, d.h. revitalisiert wird. Eine historische Theologie ist dabei weder Totengräberin des (Ur-)Christentums noch Trauerarbeit nach dessen Tod, sondern wird, richtig betrieben, dem Leben dienen. Besteht der Wahrheitsanspruch der christlichen Religion zu Recht, daß sich nämlich an der Person Jesu das Heil entscheidet, so ist radikale historische Forschung vonnöten, um die Geschichte nachzuzeichnen, in der Jesus als der Christus bekannt wurde. In der möglichst objektiven, unsere Kenntnisse ständig neu erweiternden Forschung dieser Geschichte hat die neutestamentliche Wissenschaft ihre bleibende Aufgabe. Ob sie damit Glauben erzeugt, steht freilich nicht in ihrer Macht, denn gerade historische Theologie führt auch zur Erkenntnis, daß Glauben durch historisch nicht reflektierte Interpretation sowie Kommunikation bzw. Interaktion immer wieder entsteht und lebt und sich dem wissenschaftlichen Zugriff entzieht.

Gerd Lüdemann, 1996